Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Jakob Hartmann, Lebenserinnerungen eines Alsfelder Lehrers, 1914-1919

Abschnitt 6: Beinamputation im Reservelazarett Schönbeck

[19-20] In Schönebeck a.d. Elbe wurde ich ausgeladen und fand im dortigen Reservelazarett Aufnahme. Ich kam in ein Einzelzimmer, was für mich kein gutes Zeichen war.

Von Tag zu Tag verschlimmerte sich mein Zustand. Das Lazarett schickte ein Telegramm an meine Eltern, daraufhin kam meine Schwester angereist. Tagelang hatte ich hohes Fieber, und ich konnte kaum etwas essen. Der Arzt versuchte auf die verschiedenste Weise, der eingetretenen Sepsis (Blutvergiftung) Herr zu werden. Meine Schwester mußte Rotwein in der Stadt holen, aber schon der Geruch widerte mich an, ich brachte keinen Schluck über die Lippen. Ich war der Meinung, es sei zu billiger Wein, deshalb jagte ich zornig meine Schwester noch einmal zur Weinhandlung, sie mußte eine teuere Sorte holen, aber auch die ging nicht in mich. Ich konnte auch nicht vertragen, wenn sich meine Schwester für längere Zeit aus dem Zimmer entfernte. Heute weiß ich, daß mein Verhalten damals das eines Sterbenden war, wieder ging es um Leben oder Tod, wie damals auf dem Hauptverbandsplatz. Mein geschwächter Körper wurde nicht Herr über die Blutvergiftung, und der Arzt fürchtete, daß ich die Augen für immer schließen werde. So oft er kam, stets das gleiche Bild, keine Besserung. Da eröffnete er mir, worauf er gelegentlich schon einmal hingewiesen hatte, jetzt hilft nur noch eins: Amputation. Ich mußte die Einwilligung dazu, die mir schriftlich vorgelegt wurde, unterschreiben. Das fiel mir nicht schwer, mir war alles gleich, was mit mir gemacht wurde, nur anders, so oder so, sollte es mit mir werden.

[S. 20] Und es wurde nach der Amputation anders, besser, es ging wieder aufwärts. Was waren das damals doch für Zeiten, da das Unglück des Verlustes eines Beines als Glück bezeichnet wurde. Es sind mir später Fälle bekannt geworden, in denen Verwundete die Unterschrift zur Amputation verweigerten, sie wollten lieber sterben und nicht zeitlebens als „Kriegskrüppel" oder „Kriegsverstümmelte" umherlaufen. Diese aufgekommenen harten Worte wurden noch während des Krieges in „Kriegsverletzte" umgewandelt, im 2. Weltkrieg kam dafür das Wort „Kriegsbeschädigte" auf. Schade, daß abgetrennte Gliedmaßen nicht nachwachsen und Prothesen deshalb „lebenslänglich" sind und man sich daran gewöhnen muß.


Empfohlene Zitierweise: „Jakob Hartmann, Lebenserinnerungen eines Alsfelder Lehrers, 1914-1919, Abschnitt 6: Beinamputation im Reservelazarett Schönbeck“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/79-6> (aufgerufen am 01.05.2024)