Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Frieda Zölzer, Die Mobilmachung und die ersten Kriegswochen in Buchenau, 1914

Abschnitt 3: Verabschiedung der Soldaten aus Buchenau 3. August 1914

[Sp. 273]
Am Montag Morgen [3. August] mit dem Frühzug mußten unsere ehemaligen Marburger Jäger1 einrücken und nachmittags fuhren noch einige fort. Von da an bis zum Freitag den 6. August entführte uns jeder Zug unsere Väter, Gatten, Brüder und Söhne. Das ganze Dorf begleitete jedesmal die Davonfahrenden. Noch nie sah der Bahnhof so viele Menschen beisammen. Alles eilte herbei, um den Davonziehenden zum letzten Mal die Hand zu drücken, ihnen ein letztes Lebewohl zuzurufen. Da war alles vertreten von den Schulkindern bis zum alten Mütterchen. Freund und Feind drückten sich die Hände und vergaßen das, was in Friedenszeiten trennend zwischen ihnen stand. Die alten Veteranen mit den grauen Bärten standen gefaßt da. Lebhaft wurden sie an ihre Abschiedsstunde Anno 70 erinnert. Sie ermutigten die jungen Krieger und sagten feierlich: „Machet uns Ehre in Welschland!“ Der Zug brauste heran. Hundert Arme streckten sich aus den Wagenfenstern, und schon von weitem ertönten Hurras und Vaterlandslieder. Mit Blumen und Girlanden waren die Wagen geschmückt, und lustige Verschen zu Ehren des Zaren2 und des Herrn Poincare3 standen angekreidet. Mit lautem Jubel und begeisterten Reden nahmen die Insassen die Kameraden aus unserm Dorfe in Empfang. Der Zug hielt eine Weile; noch einmal ein inniges Umarmen, ein Händedrücken und dann mußten sich die unsern den Kameraden einreihen. Es flossen viele Tränen, aber die Begeisterung und Zuversicht trugen den Sieg davon. Jeder nahm sich so viel zusammen, um den Davonziehenden die letzten Minuten nicht unnötig schwer zu machen. Und stolz blickten viele Augen auf ihr Liebstes empor, das für sie hinauszog, um tapfer zu streiten. Der Zug setzte sich in Bewegung. Ein Hurrarufen erscholl, und alle Kehlen fielen ein in den schönen Vaterlandsgesang: Deutschland, Deutschland über alles usw. Noch ein Winken, bis daß der letzte Wagen über die Eisenbahnbrücke gerollt war und dann ging jeder still nach Hause mit dem Gefühl im Herzen: alle wie sie so frische und froh davonziehen, kehren sie nicht wieder, können sie nicht wieder heimkehren; denn dazu wird der Krieg zu blutig und das Ringen zu schwer werden. Aber, mit Gott!


  1. Das in Marburg stationierte Kurhessische Jäger-Bataillon Nr. 11.
  2. Der russische Zar Nikolaus II.
  3. Raymond Poincaré,1913-1920 französischer Staatspräsident.

Personen: Poincaré, Raymond · Nikolaus II., Zar · Zölzer, Frieda
Orte: Buchenau
Sachbegriffe: Marburger Jäger · Jäger-Bataillon Nr. 11 · Nationalhymnen · Deutschland, Deutschland über alles
Empfohlene Zitierweise: „Frieda Zölzer, Die Mobilmachung und die ersten Kriegswochen in Buchenau, 1914, Abschnitt 3: Verabschiedung der Soldaten aus Buchenau 3. August 1914“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/4-3> (aufgerufen am 01.05.2024)