Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Tagebuch des Trainsoldaten und Infanteristen Max Müller aus Kassel, 1914-1916

Abschnitt 1: Mobilmachung und Transport an die Westfront

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Mein Kriegstagebuch

M. Müller

[S. 2 unbeschrieben, auf S. 3 Zeichnung eines trommelnden Soldaten , darunter „1914“. Seite 4 unbeschrieben.]

[S. 5] August d[en] 2. Nun ist der große Augenblick da, Krieg ist’s. Heute ist der erste Mobilmachungstag. Ich kann es noch nicht fassen, die Natur lebt und wir - - . Keine trüben Gedanken, mit Gott für König und Vaterland. Mit Fritz1 heute zum Abendmahl, wer weiß für wie lange Zeit. Um 6.00 mußte ich mich in der Trainkaserne2 stellen, konnte aber wegen Überfüllung noch einmal zu Hause schlafen. Große Freude daheim, aber am anderen Morgen wurde der Abschied doppelt schwer. Ein letztes „Gott befohlen“ und ich stürmte fort. Ich wurde der 1. Eskadron Trainbataillon 113 zugeteilt und zwar als Reservefahrer. Ich, der ich noch nie ein Pferd geführt hatte. Na, im Krieg ist eben alles möglich. Wir sind beim Einkleiden als Kam[erad] Kratz zu mir kommt und sagt: „Du, Max, dein Sohn sucht dich!“ Ich konnte es kaum glauben, und doch war es so. Kaum sah er mich, da flog er auf mich zu und hing mir am Hals. Er weinte vor Freude und auch ich schämte mich meiner Tränen nicht. Eine halbe Stunde blieb uns beiden vergönnt, dann rief der Dienst. Mit einem Gruß an Mutti schickte ich ihn schweren Herzens fort. Abends rückten wir nach Mönchehof4 aus, [S. 6] wo wir bis zum 5. Aug. [1914] Quartier bekamen. Am 5. Aug. abends traf unser Kommandeur ein, hielt eine kurze Ansprache und schloß mit den Worten: „Steht eueren Brüdern treu zur Seite, nach Frankreich hinein, Seine Majestät, Hurra!“ Unter den Klängen der Musik rollte unser Zug gen Westen durch unser deutsches Vaterland, Kirchhain5, das winkelige Marburg, Bad Ems6, Koblenz sahen wir und in Koblenz unseren Strom. „Es braust ein Ruf wie Donnerhall“, wie ein Schwur klang das Lied, wir sind bereit für ihn, für Frau und Kind und unsere deutsche Heimat zu kämpfen und ihr die Treue bis zum letzten Blutstropfen zu halten. Am 8. August wurden wir nach Kylburg7 verladen, wo wir Pferde und Wagen bekamen und machten dann einen Marsch nach dem 40 km entfernten Niederreden8. Den ersten Toten, es war ein Infanterist vom 181. Inf.-Regt.9, sahen wir in Sewenig10, wo vor wenigen Tagen ein Gefecht stattgefunden hatte. Wir begruben ihn in seiner Zeltbahn, ein Holzkreuz zimmerten Kameraden, ein kurzes Gebet und dann hieß es „weiter“. Wer weiß, wieviel tote Kameraden wir noch begraben [S. 7] werden. Heute war für uns ein bedeutungsvoller Tag, es war der 18. Aug. [1914] an dem wir die belgische Grenze überschritten. Deutschland liegt nun hinter uns, Feindesland vor uns. Burxig11 ist das erste belgische Dorf, vor dem wir Biwak bezogen. Heute beschossen wir ein feindliches Flugzeug, das uns mit Bomben belegte, leider ohne Erfolg, es war zu hoch. Die ersten scharfen Schüsse sind raus!


  1. "Fritz" ist der von Max Müller häufig gebrauchte Kosename für seine Frau Frieda.
  2. Die Kasseler Trainkaserne lag an der Ihringshäuser Allee / Kellermannstraße / Ostring nördlich des Stadtzentrums. In ihr war das Trainbataillon Nr. 11 stationiert.
  3. Das Kurhessische Trainbataillon Nr. 11 war das Trainbataillon (Nachschub-und Versorgungsbataillon) des 11. Armeekorps in Kassel.
  4. Mönchehof nördlich von Kassel, heute Teil der Gemeinde Espenau, Kreis Kassel.
  5. Kreis Marburg-Biedenkopf.
  6. Rhein-Lahn-Kreis, Rheinland-Pfalz.
  7. Kyllburg, Kreis Bitburg-Prüm, Rheinland-Pfalz, etwa 10 km nordöstlich von Bitburg.
  8. Wohl Niederraden, Kreis Bitburg-Prüm. Der direkte Fußweg von Kyllburg nach Niederraden ist etwa 27 km lang.
  9. Das 15. Königlich Sächsische Infanterie-Regiment Nr. 181, zu Friedenszeiten in Chemnitz bzw. Glauchau stationiert.
  10. Wahrscheinlich Sevenig bei Neuerburg, Kreis Bitburg-Prüm, Rheinland-Pfalz. Ob in oder bei Sevenig tatsächlich ein Gefecht stattgefunden hat, ist unklar und zweifelhaft.
  11. Bourcy, heute Stadt Bastogne, Belgien, etwa 10 km nordöstlich von Bastogne. Aus der Bezeichnung von Bourcy als erster Ort in Belgien kann geschlossen werden, dass der Marsch von Sevenig durch das nördliche Großherzogtum Luxemburg führte, was aber von Müller nicht erwähnt wird.

Personen: Müller, Max · Müller, Frieda (Fritz) · Kratz, Soldat
Orte: Kassel · Mönchehof · Frankreich · Kirchhain · Marburg · Bad Ems · Koblenz · Rhein · Kyllburg · Niederraden · Chemnitz · Glauchau · Sevenig · Neuerburg · Bourcy · Bastogne
Sachbegriffe: Mobilmachung · Abendmahl · Train · Trainkasernen · Kurhessisches Trainbataillon Nr. 11 · Trainbataillon Nr. 11 · Kasernen · 11. Armeekorps · Pferde · Kommandeure · Militärmusik · Es braust ein Ruf wie Donnerhall · 15. Königlich-Sächsisches Infanterie-Regiment Nr. 181 · Gefallene · Gefechte · Biwak · Flugzeuge · Luftangriffe · Bomben
Empfohlene Zitierweise: „Tagebuch des Trainsoldaten und Infanteristen Max Müller aus Kassel, 1914-1916, Abschnitt 1: Mobilmachung und Transport an die Westfront“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/179-1> (aufgerufen am 27.04.2024)