Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Hugo Birkner, Ausmarsch und erste Kriegswochen des Reserve-Infanterie-Regiments Nr. 88 aus Hanau, 1914

Abschnitt 6: Die Einheit in den Kämpfen der Marneschlacht

[77-78] 8.9.14. Doch die Ruhe sollte in dieser Nacht nicht lange dauern; schon um 3.00 Uhr morgens wurde geweckt und um 3.40 Uhr ging es aus der Straße nach Vassincourt vorwärts. Die 4. Komp. war Spitzenkompagnie, hinter ihr folgte die 1. Komp. als Spitze des Haupttrupps. Beim Verlassen des die Straße begleitenden Waldes sichtete die Spitzengruppe eine feindliche Patrouille, die unter Feuer genommen wurde. Kaum waren die ersten Schüsse gefallen, als auch schon aus dem Orte das hämmernde Tak, tak, tak der französischen Maschinengewehre einsetzte und die Kugeln über unsere Köpfe hinwegpfiffen; ein Glück nur, daß die Franzosen in der Dämmerung zu hoch schossen.

In wenigen Augenblicken waren die Kompagnien in Schützenlinie links und rechts der Straße entwickelt und vorwärts gings: „Sprung auf! Marsch- Marsch!" Es war aber auch die höchste Zeit, denn schon setzte die feindliche Artillerie mit Schrapnellfeuer ein. In dem mörderischen Maschinengewehrfeuer der Franzosen schritt der Angriff über das ungedeckte Gelände nur langsam vorwärts und geriet dicht vor dem Ort ins Stocken. Da unsere Schützenlinie mit dem linken Flügel unseres 1. Zuges zu Ende war und wir nicht wußten, ob in dem Walde jenseits der Wiese zu unserer Linken etwa feindliche Kräfte steckten, kroch eine Patrouille des 1. Zuges zurück, um Verstärkung links verlängernd heran zu holen. Wir warteten und warteten, schickten eine zweite Patrouille ab und endlich – es ist inzwischen 10 Uhr vormittags geworden – taucht halblinks hinter uns eine Schützenlinie der 6. schlesischen Jäger zum flankierenden Angriff auf. Das Kommando „Seitengewehr pflanzt auf" durchläuft die Linie. Wir beobachten, wie nördlich des Ortes einzelne Franzosen hinter den Kornhaufen aufspringen und ausreißen. Noch einmal Schützenfeuer! Lebhaft feuern! und dann „Auf Marsch-Marsch" mit schlagendem Tambour gegen das Dorf.

Über 200 Gefangene fielen beim Eindringen ins Dorf in unsere Hände. Da wir beim weiteren Vorgehen durch den Ort aus einzelnen Häusern und Scheunen noch Feuer erhielten, wurden mehrere Scheunen angezündet und bald stand das ganze Dorf in Flammen. Gegen 3 Uhr nachmittags ging das I. Batl. gegen den Wald Soulaines vor und grub sich südlich von Vassincourt an dem nach Couronges führenden Wege ein. Die Nacht verlief ruhig.

9.9.14. Ein am frühen Morgen angesetzter Gegenstoß der Franzosen, die uns in der Dunkelheit überraschend angreifen wollten, brach im Feuer unserer Gewehre und Maschinengewehre blutig zusammen. Als es heller wurde, setzte die feindliche Artillerie wieder ein, zuerst mit Schrapnellfeuer, dann aber kamen Granaten schweren Kalibers herangeheult, wie wir sie bisher noch nicht kennen gelernt hatten. Unseren armseligen Schützengraben hatten sie bald herausgefunden und zusammengeschossen, so daß das Batl. um die Mittagsstunde den Befehl gab, die Stellung zu räumen. Das Regiment sammelte am Marne-Kanal nordwestlich Vassincourt und verblieb dort die Nacht bei starkem Regen unter freiem Himmel.

10.9.14. Vormittags 4.40 wurde das Regiment nach dem Schlößchen Faux-Miroir vorgezogen, das in einem Wiesentälchen nordwestlich von Vassincourt liegt; hier wurden Deckungsgräben ausgehoben.

Auf der Höhe vor uns fuhr eine Batterie unserer Feldartillerie auf und erhielt schon im Abprotzen schweres Geschützfeuer; ein Geschütz erhielt einen Volltreffer und überschlug sich in der Luft. Die an den Gefechtslärm nicht [S. 78] gewohnte Bespannung der Protzen, brave Ackergäule, wurden scheu und rasten mit den Protzen in vollem Galopp die Höhe herunter über unsere Gewehrpyramiden hinweg. Auch wir bekamen natürlich wieder unser Teil von dem Geschoßregen ab. 3.15 nachmittags ging die 1. Komp. in Schützenlinie in südlicher Richtung durch den Wald bis an die Straße Contrisson-Vassincourt vor; ein feindlicher Angriff wurde in Gemeinschaft mit Teilen der Res.-Regimenter 80, 81 und 87 abgewiesen.


Personen: Birkner, Hugo
Orte: Vassincourt · Couronges · Faux-Miroir · Contrisson
Sachbegriffe: Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 88
Empfohlene Zitierweise: „Hugo Birkner, Ausmarsch und erste Kriegswochen des Reserve-Infanterie-Regiments Nr. 88 aus Hanau, 1914, Abschnitt 6: Die Einheit in den Kämpfen der Marneschlacht“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/12-6> (aufgerufen am 16.04.2024)