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Kurfürstentum Hessen 1840-1861 – 64. Neukirchen

Neukirchen Karten-Symbol

Gemeinde Neukirchen, Schwalm-Eder-Kreis — Von Barbara Greve
Basisdaten | Geschichte | Betsaal / Synagoge | Weitere Einrichtungen | Nachweise | Indizes | Empfohlene Zitierweise
Basisdaten

Juden belegt seit

1556

Lage

34626 Neukirchen, Untergasse 21 | → Lage anzeigen

erhalten

ja

Gedenktafel vorhanden

ja

Weitere Informationen zum Standort

Historisches Ortslexikon

Geschichte

Die kleine Stadt im Knüll-Gebirge gehörte seit dem hohen Mittelalter als Amtssitz zur Grafschaft Ziegenhain und seit 1450 in gleicher Funktion zur Landgrafschaft Hessen.

Ab Mitte des 16. Jahrhunderts sind Juden in Neukirchen belegt. 1556 wird in Stadt und Amt ein Judenzoll erhoben, 1594 wird ein Jude zu Neukirchen genannt.1 Weitere Nennungen folgen im 17. Jahrhundert, so 1638 mit drei Juden.2 Trotz lückenhafter Überlieferung ist seit dieser Zeit eine durchgehende Besiedlung anzunehmen. Die Hessische Judenstättigkeit erwähnt zum Jahr 1744 vier Juden,3 Arnsberg nennt für 1777 28 Erwachsene.4 1816 leben neun jüdische Familien mit ihren Ehepartnern und Kindern sowie ein Junggeselle und eine Witwe mit fünf zum Teil erwachsenen Kindern in der Stadt.5 Die Gemeinde vergrößerte sich kontinuierlich und zählte 1837 bereits 52 Männer und 50 Frauen, von denen 17 einer selbstständigen Tätigkeit nachgingen. Gleichzeitig gab es 22 Knaben und 19 Mädchen bei 17 Schulkindern.6 Um 1860 zählte die Gemeinde 94 Mitglieder in 16 Familien. Ihren Höchststand verzeichnete sie 1895 mit 113 Köpfen, sank dann 1905 wieder auf 91 Personen und stieg 1925 noch einmal auf 107 Juden an.7

Jüdische Geburtsregister zu Neukirchen aus dem 19. Jahrhundert sind für den Zeitraum 1824 bis 1876 überliefert und sind digital in Arcinsys einsehbar. Sie umfassen auch die zur Synagogengemeinde Neukirchen gehörigen Juden aus Röllshausen.8

Das Ende für die Jüdische Gemeinde in Neukirchen wurde wie überall mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 eingeleitet. Diese Zeit ist mit den Untersuchungen von Barbara Greve historisch gut aufgearbeitet.9 Laut einer Liste der Stadtverwaltung, welche bei Arnsberg genannt wird, lebten 1933 noch 78 Erwachsene jüdischen Glaubens in der Stadt. Eine andere Angabe nennt 101 jüdische Einwohner, d.h. 6 Prozent der Einwohnerschaft Neukirchens.10 Durch Emigration und Umzüge sank die Zahl der Juden in Neukirchen bis zum Mai 1942 auf neun. Acht von ihnen wurden am 31. Mai 1942 von Neukirchen nach Kassel verbracht und am 1. Juni 1942 nach Izbica/Sobibor deportiert. Eine alte Frau wurde nach Treysa in ein sogenanntes „Judenhaus“ eingewiesen, von wo sie im September 1942 nach Theresienstadt deportiert wurde. Neben diesen neun Menschen wurden weitere Neukirchener Juden, welche sich nach Frankfurt, Kassel oder in das europäische Ausland geflüchtet hatten, Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung.11 Das Gedenkbuch des Bundesarchivs nennt 52 Opfer des Holocaust.12

Betsaal / Synagoge

Bereits im 18. Jahrhundert ist das Vorhandensein einer Betstube anzunehmen.13 Vor dem heute noch als Wohnhaus existierenden Synagogengebäude gab es bereits einen Schul- und Betraum in einem gemieteten Privathaus, doch die Synagoge sei „ganz unzweckmäßig“, weil „das jetzige Local äußerst beschränkt [ist] und der heilige Zweck seiner Bestimmung durchaus nicht entspricht“, wie der damalige Bürgermeister Reidt 1831 bemerkte.14 So kaufte die Gemeinde am 22. November 1831 für 600 Taler ein Wohnhaus am inneren Stadtring. Das Gebäude wurde zu einer Synagoge mit Schulsaal und Lehrerwohnung sowie einem Frauenbad umgebaut.15

An Kultusgegenständen besaß die Gemeinde zu dieser Zeit bereits eine Thorarolle, eine Megilla und eine silberne Zeigehand.16 An Kultusgegenständen waren im Jahre 1889 sieben Thorarollen, eine Megilla, sechs Thoravorhänge, 26 (Thora-)Mäntelchen, eine silberne Hand und ein silberner Becher vorhanden. Dieser Besitz deutet zwar auf eine prosperierende Gemeinde hin, jedoch überstiegen die Schulden noch immer deren Einnahmen um fast 100 Prozent. Seit 1898 gab es eine zweite Altardecke und zwei Kronleuchter, 1907 verfügte die Gemeinde gar über sechs Altardecken.17

In der Pogromnacht 1938 wurde die Synagoge im Inneren verwüstet. Mobiliar und religiöse Gegenstände wurden auf dem nahen Marktplatz verbrannt.18 Das Gebäude wurde in der Folge von der Stadt erworben und diente als Lager für französische Kriegsgefangene. Nach 1945 wurde das Gebäude an einen Privatmann verkauft und später als Wohnhaus genutzt. Gegenüber der Synagoge wurde von der politischen Gemeinde ein Gedenk- und Erinnerungsstein mit einer kleinen Anlage errichtet. Die Kultusgegenstände wurden in der NS-Zeit in die Kasseler Hauptsynagoge ausgelagert, wo sie bei dem mutwillig gelegten Brand im Novemberpogrom 1938 und dem darauf folgenden Abriss wohl zerstört wurden.19

Weitere Einrichtungen

Mikwe

Als man in den 1830er Jahren begann, sich um die Gesundheit der jüdischen Frauen und die Hygiene der Ritualbäder Gedanken zu machen, wurden in Neukirchen die vorhandenen sogenannten „Badelöcher“ visitiert und umgehend versiegelt. Es handelte sich dabei um zwei in den Kellern der Wohnhäuser von Judmann und Haune Bachrach befindliche Erdlöcher, in denen das Grundwasser aufgefangen wurde, um den Frauen der Familie das rituelle Bad nach der Mensis zu ermöglichen. Judmann Bachrach wies darauf hin, dass sein Badeloch seit zwanzig Jahren nicht mehr in Benutzung sei. Bei dem Handelsmann Haune Bachrach befand sich dasselbe neben den Öl- und Essigfässern sowie den Kartoffeln in einer Kellerecke. Zur Abhilfe der Zustände wurde Isaak Bachrach 1835 die Erlaubnis erteilt, vom Braukump aus eine Leitung zu seinem Haus zu führen, um dort ein allgemein zugängliches Frauenbad einzurichten. Dafür musste er jährlich 3 Reichsthaler an die Stadtkasse abführen. Seit 1836 befand sich das Ritualbad im Keller der Synagoge. Wie es mit Wasser gespeist wurde und wie lange es genutzt wurde, ist unbekannt.

Schule

1830 lehrte der Lehrer Hecht in Neukirchen.20 Seit 1836 unterrichtete der Lehrer Ascher Spier aus Merzhausen die jüdischen Kinder. Er übte zugleich das Amt des Vorsängers und vermutlich auch das des örtlichen Schächters aus. Ihm folgte für ein Gehalt von 145 Talern bei freier Wohnung im Jahre 1847 Benedict Hause, welcher zuvor im benachbarten Oberaula tätig gewesen war. 1870 folgten Elias Blaubaum aus Obernkirchen und 1876 Joseph Rothschild aus Rothenkirchen, welcher mit einem Gehalt von 780 Mark eingestellt wurde. Da dies jedoch weit unter dem Gehalt eines christlichen Lehrers lag, sah sich die Gemeinde genötigt, seine Entlohnung um 100 Mark aufzustocken. Joseph Rothschild erkrankte 1908 schwer und starb bald darauf. Ihm folgte Samuel Schaumberg aus Schweinsberg nach. Anfang Mai 1933 wurden alle jüdischen Schullehrer beurlaubt und die jüdischen Kinder mussten fortan die Stadtschule besuchen. Die Schule wurde offiziell zum Herbst 1933 aufgelöst. Der erst 47jährige Samuel Schaumberg zog im Frühjahr 1934 mit seiner Frau nach Alsfeld und 1938 weiter nach Frankfurt, wo er nach der Pogromnacht verhaftet und in das Konzentrationslager Dachau verbracht wurde. Im Jahre 1942 wurde Samuel Schaumberg unbekannten Datums aus Frankfurt deportiert.

Friedhof

Die Juden in Neukirchen bestatteten ihre Toten seit alters her auf dem Friedhof in Oberaula.21 Im Jahre 1844 wurde ein eigener Totenhof angelegt.22 Die erste Beisetzung dort betraf die 25jährige Esther, Ehefrau des Selig Wallach und Tochter des David Wallach, welche am 28.6.1844 verstorben war.23 Die letzte Beisetzung war die des Julius Bachrach, gestorben am 5.10.1940. Am 9. Dezember 1940 wurde der Friedhof offiziell geschlossen. Die später Verstorbenen mussten nun auf dem als Zentralfriedhof ausgewiesenen Friedhof in Ziegenhain-Niedergrenzebach beerdigt werden.24 Hier wurden die letzten in Neukirchen verstorbenen Menschen jüdischen Glaubens, Mathilde Sonn (gest. 22.2.1941) und Fanni Spier (gest. 22.8.1941), vermutlich beigesetzt.25 Unterlagen dazu gibt es nicht. Am 19. Mai 1943 wurde der Friedhof von der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland für 300 Mark an die Zivilgemeinde verkauft und in das Grundbuch eingetragen.26 Der Verkauf wurde mittels Teilvergleich vom 28. November 1950 rückgängig gemacht. Dabei wurde für Instandsetzungskosten für Schäden an den Grabsteinen während der „Kristallnacht“ im November 1938 ein Betrag von 213,34 DM eingesetzt.27 Im Vergleich zu ähnlichen Berechnungen anderer Friedhöfe in Nordhessen ist dies ein eher bescheidener Betrag.

Der fast quadratische Friedhof Neukirchen umfasst heute eine Fläche von 534 Quadratmetern. Er liegt an der Schwarzenborner Straße und ist von einem Neubaugebiet umgeben. Er ist bis auf ein kleines Restgebiet voll belegt. Die in der Pogromnacht 1938 umgestürzten Steine wurden nach 1945 wieder aufgerichtet. Erhalten sind 106 Grabsteine aus der Zeit von 1844 bis 1940. Auf dem Friedhof steht ein Gedenkstein von 1971, der an die Opfer der NS-Zeit erinnert.

Die Grabinschriften des jüdischen Friedhofs Oberaula sind von der „Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen“ dokumentiert und in LAGIS einsehbar. Dazu findet sich dort auch ein Lageplan, der das Auffinden der Grabsteine erleichtert.

Oberaula, Jüdischer Friedhof: Datensatz anzeigen
Neukirchen (Knüll), Jüdischer Friedhof: Datensatz anzeigen

Grabstätten

Oberaula, Jüdischer Friedhof: Grabstätten anzeigen

Nachweise

Weblinks

Quellen

Literatur

Abbildung vorhanden

(in Bearbeitung)

Fußnoten
  1. Löwenstein, Quellen 3, S. 298 N 131 und S. 86 Nr. 3432
  2. HStAM, 40 a Rubr. 16 Generalia Bd. 5; 330 Neukirchen B 32
  3. Demandt, Judenstättigkeit, S. 300
  4. Arnsberg, Jüdische Gemeinden 2, S. 123, sowie HStAM, H 3 Neukirchen
  5. Greve, Schluss mit „lustik“, S. 131-147
  6. HStAM, Rechnungen III Neukirchen, 1789
  7. Arnsberg, Jüdische Gemeinden 2, S. 123
  8. HHStAW 365, 632
  9. Greve, Eine kleine Stadt in Hessen, 2010
  10. Biskamp/Walper, Kultusgemeinde Neukirchen, S. 473
  11. Greve, Jeder Mensch hat einen Namen, S. 307-446
  12. Gedenkbuch Opfer der Verfolgung, Bundesarchiv 2006
  13. Vgl. allgemein Altaras, Synagogen, S. 159 f.
  14. HStAM 19, h 576
  15. HStAM, 180 Ziegenhain, 2921
  16. HStAM, Rechnungen III Neukirchen, 1789
  17. HHStAW 518, 1768. Die in einer Aufstellung über die für die Synagoge Neukirchen genannten und eventuell vor Kriegsausbruch nach Kassel ausgelagerten Kultusgegenstände können wert- und mengenmäßig nicht beurteilt werden.
  18. Zeitzeugengespräch mit Frau C. W., geb.1925, am 11.1.2007 in Neukirchen
  19. HHStAW 518, 1769
  20. HStAM, Protokolle II Neukirchen, 83
  21. Greve, Friedhof Oberaula, S. 163
  22. Grulms/Kleibl, Jüdische Friedhöfe, S. 142 f.
  23. HStAM, Protokolle II Neukirchen, 83
  24. HStAM, 330 Neukirchen, B 6852
  25. Greve, Jeder Mensch hat einen Namen, S. 331 und 334
  26. HHStAW 519/2, 943. Greve, Kleine Stadt, S.136
  27. HHStAW 518, 1253/1
Empfohlene Zitierweise
„Neukirchen (Schwalm-Eder-Kreis)“, in: Synagogen in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/syn/id/411> (Stand: 30.8.2022)