Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Egly, Kriegstagebuch eines Soldaten aus Friedberg, 1916-1917

Abschnitt 26: IV. Überlegungen zum Sinn des Krieges

[76-79] 2. Mai.
Nachdem das gegen Abend auslebende Feuer der Artillerie und Minenwerfer sich beruhigt hat, mache ich pflichtgemäß meinen Gang durch alle Gräben der Stellung, die über eine Bodenwelle sich hinzieht.
Flach wie eine Tafel und breit liegt die französisch-lothringische Ebene in weiter Runde. In der Ferne erhebt sich der Mont Sec, eine steile, teilweise bewaldete Kuppe. Dahinter die Cote Lorraine, welche die Ebene mit ihren hineingestellten Gärten und Wäldern [S. 77] einfaßt wie eine Krystallschale, in die von sorgfältiger Hand die schönsten Früchte gelegt wurden. Ein opalisierendes Meer von goldigen Blütenstäubchen liegt hell und durchsichtig über der Landschaft und flutet durch den Raum, den das weichschimmernde Abendlicht füllt. Wie eine Brandung an steilem Gestade, so schäumt der scheidende Tag auf in goldrandigen, karminroten Wolken, ehe er hinüberstirbt in die tiefblaue Vollmondnacht. Oder ist dieses dunkelleuchtende Rot der Widerschein rinnenden Blutes, das weit hinter jenen Bergen der Cote Lorraine in der Champagne auf dem gierigen Altar wahnsinniger Verblendung geopfert wird? —
[…]

4. Mai.
Die kümmerlichsten, zerschossensten Bäume treiben [S. 78] vom Stamm aus seitwärts grünende Zweige. Sie treiben und wachsen und sind doch der Krone beraubt!
Armes Herz, du mußt noch lange nicht verzweifeln, wenn es auch bitter genug ist, in diesen Tagen Soldat sein zu müssen. —
Es lag heute schwerstes Minenfeuer auf der Stellung. Aber unsere tiefen Stollen halten stand. Wir haben einen Verwundeten und zwei Tode verloren, die dort überrascht wurden, wo der Mensch leider am hilflosesten ist.

5. Mai.
Schon wieder Minenfeuer. Ein Volltreffer vernichtet einen Maschinengewehr-Betonstand.

Eben will ich meinen Unterstand verlassen, als eine Mine angetorkelt kommt. Wie eine betrunkene Blutwurst. Sie platzt gerade weit genug, daß ich in meine Höhle mit unerhörtem Schwung zurückfliege.
Unsere Verluste stehen in keinem Verhältnis zu der auf uns verschossenen Munition.

Der Graben wird zugeschüttet, Schulterwehren werden weggerissen. Einige Nächte Arbeit, und der Schaden ist wieder geheilt.
Unsere Artillerie schießt Vergeltung. Aufatmend kriechen unsere Infanteristen aus ihren tiefen, dunklen Höhlen heraus. Sie haben ihre helle Freude daran, wie über der feindlichen Stellung eine braune Wand qualmend in die Höhe wächst; wie die Gräben, der nahe Wald und alles, was jenseits der Drahtverhaue liegt, in einer Rauch- und Staubwolke verschwindet.

Je toller die Schießerei, desto lauter schreit der Kuckuck. Lacht er uns Menschen aus oder schreit auch er nur aus Verzweiflung? — [S. 79] Es regnet. Stockfinstere Nacht. Schwarz starren die Bäume empor, zwischen denen gestern noch das Mondlicht rieselte. Nur langsam vermag ich mich vorwärts zu tasten, mit dem Stock auf dem Boden, mit den Augen den Grabenrand oder im Wald die Wipfel suchend.
Aber man fällt immer wieder in den Schlamm, und schließlich wälzt sich nur ein Lehmkloß durch die enge Tür des Unterstandes.


Personen: Egly, Wilhelm
Orte: Friedberg
Sachbegriffe: Artillerie · Graben · Infanterie · Kuckuck · Landschaft · Minen · Munition · Stellungen · Tagebücher · Verblendung · Vollmond
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Egly, Kriegstagebuch eines Soldaten aus Friedberg, 1916-1917, Abschnitt 4: IV. Überlegungen zum Sinn des Krieges“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/65-26> (aufgerufen am 14.05.2024)