Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Otto Merkel, Geschichte der Familie Merkel 1912-1919

Abschnitt 27: Attentat von Sarajewo und drohende Mobilmachung

[112] Es war ein Sonntagabend Ende Juni [in Dillenburg]. Maria und ich saßen auf dem Balkon des Nachbarhauses bei Frau Jakobi, deren Mann in Herborn zu einer Versammlung war. Eben kam er die Baumgartenstraße herauf und rief uns schon von unten die Neuigkeit zu, dass das österreichische Thronfolgerpaar in Sarajewo erschossen worden sei1. Da von vornherein jeder vermutete, dass dieser Mord eine politische Tat sei und wahrscheinlich die großserbische Bewegung dahinter stecke, so stiegen sofort Erörterungen über die Möglichkeit eines Krieges zwischen Österreich u. Serbien auf, und die Gefahr, dass auch Deutschland mit hineingezogen werden könnte stand ebenfalls bereits drohend im Hintergrund.

Wir erinnerten uns unser Mobilmachungsorder2, die bei mir auf den 3. Mobilmachungstag lautete. Jakobi war unabkömmlich und Grävenstein hatte nicht gedient, kam also nicht in Frage. Alle diese Dinge wurden von den Männern mit Ruhe, von den Frauen mit stiller Angst erörtert und ziemlich gedrückt gingen wir diesen Abend auseinander. Doch die nächsten Tage vergingen, ohne dass etwas besonderes geschah, und man glaubte, die Sache würde sich beilegen. Maria trat beruhigt ihre Reise nach Leipzig an, wo sie sich erholen sollte, und ich hauste als Strohwitwer allein mit Lenchen und den Kindern.

Die Ruhe war jedoch nur scheinbar gewesen, unter der Oberfläche glomm es fort und die Glut sprang durch unbeobachtete Funken auch auf unsere Westnachbarn über. Überall schien man sich zu bemühen, einen offenen Ausbruch des Kampfes zu verhindern; doch überall rüstete man sich für jeden Fall. Und dieses gegenseitige Wettrüsten wurde immer drohender. Jeder verlangte vom andern Ruhe und doch rüstete jeder heimlich weiter.

Es kam das österreichische Ultimatum3; es kam das vermittelnde Eingreifen Englands; es kam der Besuch des Prinzen Heinrich4 in London; es folgte der bewegte Depeschenwechsel des deutschen und des russischen Kaisers5, es wurde überall mobil gemacht und die Ablehnung des österreichischen Ultimatums an Serbien löste automatisch die Kriegserklärung Oesterreichs an Serbien6, die Erklärung Deutschlands, zu Oesterreich zu stehen aus, und wie ein Rattenkönig kam dahinter die Kriegserklärung zwischen Deutschland, Russland und Frankreich. Ehe man sich’s versah, brannte die ganze Welt vom heftigsten Kriegsfeuer.


  1. Das Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau wurde am 28. Juni 1914 in Sarajevo verübt.
  2. Mit der individuellen Mobilmachungsorder hatte jeder Wehrpflichtige die Anweisung erhalten, wann und wo er sich im Falle einer Mobilmachung zu stellen hatte.
  3. Österreichisch-ungarisches Ultimatum an Serbien vom 23. Juli 1914.
  4. Prinz Heinrich von Preußen (1862-1929), Bruder Kaiser Wilhelms II.
  5. Die Kriegserklärung Österreichs an Serbien erfolgte am 28. Juli 1914.

Empfohlene Zitierweise: „Otto Merkel, Geschichte der Familie Merkel 1912-1919, Abschnitt 27: Attentat von Sarajewo und drohende Mobilmachung“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/5-27> (aufgerufen am 03.05.2024)