Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Tagebuch des Trainsoldaten und Infanteristen Max Müller aus Kassel, 1914-1916

Abschnitt 8: Heimaturlaub und Tod des Vaters

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Ich kann es nicht glauben, ich fahre in Urlaub , mein Traum wird wahr. Meine Quartierleute freuen sich mit mir, helfen meine Sachen packen und stecken mir für die Reise noch gute Sachen zu. Um 1.00 empfing ich meine Löhnung, bekam meine [S. 38] Fahrscheine und dampfte 7.05 über Charleville1 nach Frankf.a./M., hier stieg ich um und war gegen 11.00 in Kassel. So ganz anders sah es hier aus, kein kriegerisches Leben, kein Kanonendonner und Gewehrschießen. Und doch merkte man auch hier den Krieg, die fehlenden Männer. Frauen standen auf der Straßenbahn als Führer und Schaffner, als Postboten versahen sie den Dienst ihrer Männer. Pflichterfüllung an der Front und in der Heimat. Was werden meine Lieben sagen, wenn ich plötzlich da bin? Wer begegnet mir unterwegs? Werner, der zur Schule will. Mich sehen und mir um den Hans springen ist das Werk einer Sekunde. Ist der Junge groß geworden! Nun noch 5 Minuten und ich bin zu Hause, halte meinen Fritz2 im Arm. War das eine Freude. Beide weinten wir Freudentränen. Vom 13. – 22. habe ich eine herrliche Urlaubzeit verlebt. Nur ein bitterer Tropfen fiel in meinen Freudenbecher, Fritz und ich fuhren nach Eberswalde3, um meinen Vater zu besuchen, der schwer krank zu Bett liegt. Ich habe ein Gefühl, als wenn ich ihn zum letzten Mal in diesem Leben sehe. Anschließend nach Stettin und Fritzens [S. 39] Eltern4 besucht. Nun nähert sich mein Urlaub seinem Ende zu. Herrgott, wie schnell sind die 14 Tage vorbei. So schwer hätte ich mir den Abschied nicht gedacht. Am 22. XI. [1915] um 5.18 mußte ich fort. Fritz und Werner waren mit zum Bahnhof. Wir konnten nur kurz Abschied nehmen, kaum war ich im Wagen, ging es los. In einer Art ganz gut, mir ist das Weinen auch näher als das Lachen. Das war eine traurige Fahrt zurück nach Valenciennes, wo ich völlig niedergeschlagen ankam. Meine Quartierwirte freuten sich, daß ich wieder da war und taten mir alles Gute, damit ich mich schnell eingewöhnen sollte.

Der Dezember fängt gut an: Impfen gegen Typhus, Cholera und alles mögliche. Jeden Tag Regen. Von Friedchen heute (13.)[Dezember 1915] eine Uhr mit Leuchtzifferblatt bekommen. Heute (15.) [Dezember 1915] gegen 1.00 2 feindl[iche] Flieger über V[alenciennes]. Plötzlich ist ein deutscher Flieger da und wie der Blitz über den beiden anderen. Er eröffnet sofort sein Feuer und vielleicht nach 20-25 Schüssen stürzte ein Flugzeug. Der Beobachter stürzte in etwa 200 m Höhe aus dem Flugzeug und blieb tot auf der Straße als unförmliche Fleischmasse liegen. Ein furchtbarer Anblick. Wir gingen gerade zum [S. 40] Portionenempfangen. Zu Hause hatte Döhle Pech, seine Portion fiel in den . . . Nachttopf. Ich glaube, er hat sie aber doch gegessen. Krieg ist Krieg und ein Stück Leberwurst ist kein Stück Holz.

Nun ist es doch so, wie ich es schon immer geahnt. Am 22. Dez. bekam ich vom Feldwebel ein Telegramm: Vater tot. Mir wurde sofort Urlaub bewilligt, trotzdem ich erst vor 4 Wochen vom Urlaub kam. Nun bin ich zu Weihnachten mit meinen Lieben zusammen, leider nicht zu fröhlichem Fest, mit traurigen und auch freudigem Herzen sitze ich im Zug und rolle der deutschen Grenze zu. Verhungern kann ich nicht, ehe ich fuhr, kam die Weihnachtspost, die für mich 1 gr[oßes] und 6 kl[eine] Pakete hatte. 11.20 fuhr ich in V[alenciennes] ab über Lille, Brüssel, Löwen, Aachen, Hannover nach Berlin, wo ich 24. Dez. [1915] nachts 1.00 ankam. Fritz und Mariechen hatten mich am Bahnhof abgeholt. Von Berlin sind wir dann am nachm[ittags] nach Eberswalde gefahren. Wir besorgten uns gleich einen Kranz und gingen dann nach Hause. Papa lag schon aufgebahrt, er sah ruhig und friedlich aus, das Sterben ist ihm nicht schwer geworden. Noch ein letzter Blick und [S. 41] still gingen wir hinaus. Schlaf wohl! Am 1. Weihnachtstag um 2.30 schritten wir hinter Papas Sarg, der über und über mit Kränzen bedeckt war, zum Friedhof. Einen schönen Platz hat er, an den er dem ewigen Leben entgegen schlummern kann. 3 Hände Erde und Blümlein ins Grab und ergriffen gingen wir heim unsere Mutter zu trösten. Da wir dicht bei Stettin sind, wollen wir Grabow5 besuchen, die beiden alten Leutchen freuen sich, sie sind dann auch nicht so allein und kommen über den Schmerz, ihren jüngsten Sohn dem Vaterland geopfert zu haben, leichter hinweg. Am 31. Dez. [1915] waren wir wieder in Berlin und feierten mit Marie und Klärchen, die aus Magdeburg gekommen war, bei Marie Sylvester. Es war ein schönes Fest, bei Karpfen und Sekt begrüßten wir das neue Jahr, gedachten der Kameraden, die jetzt die Wacht hielten und gedachten der Kameraden, die in kühler Erde ruhen. Ernst und feierlich läuteten die Glocken das Jahr 1916 ein. Was wird es uns bringen? Werden wir in diesem Jahr die Friedensglocken läuten? Wie Gott will, wir stehen in seinen Händen, wir kennen seine Wege nicht.


  1. Heute Charleville-Mézières, Hauptstadt des Départements Ardennes.
  2. "Fritz" ist der von Max Müller häufig gebrauchte Kosename für seine Frau Frieda.
  3. Stadt Eberswalde, nordöstlich von Berlin.
  4. D.h. die Eltern der Frieda Müller, die Schiegereltern des Tagebuchschreibers.
  5. Möglicherweise heute Grabow, Gemeinde Süderholz in Mecklenburg-Vorpommern.

Personen: Müller, Max · Müller, Frieda (Fritz)
Empfohlene Zitierweise: „Tagebuch des Trainsoldaten und Infanteristen Max Müller aus Kassel, 1914-1916, Abschnitt 8: Heimaturlaub und Tod des Vaters“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/179-8> (aufgerufen am 29.04.2024)