Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Hermann Cohen, Vom ewigen Frieden

Abschnitt 2: Kriegspflicht als Freiheit und Notwendigkeit

[43-45]
Beides ist notwendig: die Unterscheidung, aber zugleich die Aufrechterhaltung beider Glieder in ihrem logisch gleichen Werte, so daß die Wirklichkeit ihren Wert behauptet gegenüber der Idee, und die Idee ihren eigenen Sinn nur begründet in der Mahnung und Leitung, mit der sie der Wirklichkeit sich annimmt. Diese Wahrheit des Idealismus, die zugleich der Wirklichkeit die Ehre gibt, sichert uns die persönliche Wahrhaftigkeit in allem unseren Denken, Forschen und handeln.
Ein anderer Ausdruck dieser Grundunterscheidung ist die von Freiheit und Notwendigkeit. Eure Kriegspflicht nun bringt die Lösung dieses Widerspruchs zu einer ebenso klaren, wie tiefen Befriedigung. Ihr gehorchet [S. 44] eurer Pflicht und gebt euch ihr untertan. Scheinbar begebt ihr euch eurer Freiheit, indem ihr scheinbar blindlings dem Kommando folgt, und so dem zwingendsten Kausalnexus der Notwendigkeit euch einordnet, für den es kein kleinstes Intervall zu geben scheint, in dem die persönliche Freiheit des menschlichen Individuums sich regen könnte, sich regen dürfte. Und diese sittliche Freiheit ist ja doch eure menschliche Aufgabe, die Bedeutung der Idee der Menschheit in euch: wie klafft hier so schroff der Widerspruch zwischen Idee und Wirklichkeit.
Ja, liebe Kommilitonen, die Freiheit eures sittlichen Willens, auf der eure Menschenwürde beruht, sie ist die Aufgabe der Menschheit in jedem menschlichen Individuum. Und vielleicht im höchsten Grade wird sie in euch als diese Aufgabe der Menschheit wirksam.
Die Idee ist Aufgabe, nicht Wirklichkeit. So ist die Freiheit, als Idee, nicht der natürliche und bequeme Besitz des Menschen, sondern das Sollen, das ihn an seine sittliche Bestimmung mahnt, und aus der Notlage, dem Zwange der natürlichen und der geschichtlichen Bedingungen seines Daseins, seines Berufes und seines Geschickes ihn heraus- und emporhebt zu den Zwecken, in denen seine Ausgabe, gemäß der Idee der Menschheit, der Freiheit, der Sittlichkeit, sich verwirklichen soll.

Die Freiheit ist nicht ein Erbbesitz des Organismus, sondern ein Zweckgedanke des menschlichen Lebens für sein Leben in der Idee. Und wie diese Idee überall das [S. 45] wahrhafte Sein ausmacht, so besteht das wahrhafte Leben und Handeln des Menschen in dieser Erhebung zur Aufgabe der Freiheit, die den Zweck und die Bestimmung der Menschheit in ihm bildet. Aber die Erhebung zur Freiheit ist niemals ein Verweilen und Behagen im Besitze der Freiheit.
Wenn ihr mit Todesverachtung und mit der vollen und strengen Hingabe eures ganzen Bewußtseins an eure Kriegspflicht eurem Dienste lebt, so erhebt ihr euch in eurem reinen Willen in das Land der sittlichen Freiheit. In den Momenten eures sittlichen Aufschwungs zu dieser Unterwerfung unter die Pflicht schaffet ihr der Idee der Freiheit Verwirklichung in eurem Geiste. Der Geist der Menschheit kehrt alsdann in euch ein, der Geist der Sittlichkeit in diesem Aufschwung der Freiheit: die Idee, die von der Wirklichkeit zu unterscheiden ist, sie wird Wirklichkeit in der Idee eures Geistes, in der Verwirklichung eures reinen Willens.


Personen: Cohen, Hermann
Sachbegriffe: Philosophie · Professoren · Ewiger Friede
Empfohlene Zitierweise: „Hermann Cohen, Vom ewigen Frieden, Abschnitt 2: Kriegspflicht als Freiheit und Notwendigkeit“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/166-2> (aufgerufen am 06.05.2024)