Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914

Abschnitt 1: Nachricht vom Attentat von Sarajevo

[234]

G.C.1 In Leipzig war ich ein Student und hatte vor wenigen Tagen meinen 21. Geburtstag erlebt, als spät am Sonntagabend des 28. Juni die Kunde von jener furchtbaren Tat die schöne Lindenstadt erreichte. Jene Kunde von der Ermordung des österreichischen Kronprinzenpaares, der zu dem Augenblick kaum jemand ansah, welche Keime Unheil und Leid der ganzen Welt bereitend sie zum Wachsen bringen würde.

Was ich in den Tagen des XII. deutschen Turnfestes zu Leipzig im Sommer 19132 zum ersten Male so freudig gefühlt, es ward jetzt mir und manchem lieben Kameraden wieder groß und mächtig: die Liebe zu allem, was deutschen Wesens ist, das Gefühl der Zugehörigkeit und Einigkeit mit unsern österreichischen Brüdern. Und als in den schwülen Julitagen [1914] sich die Wolken am politischen Himmel der Völker schwerer stets und drohender ballten, und als des Volkes Stimme und Gewissen wach wurde und der Gefühle übermächtiger Strom durchzubrechen begann, da war es jenes Einssein mit Österreich, was mir schon lange ein liebster Gedanke, das allem Tun und Treiben jener Tage den Charakter gab. Da sangen sie's wieder zum ersten Male im großen Chor und aus wirklicher Lust: Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt! — Und jeden Abend wuchs die Schar, die also sang und durch die Straßen der Stadt zog. Je drohender und dunkler es rings um deutsches, alldeutsches Land wurde, um so brünstiger haben wir dies deutsche Hohe Lied gesungen. Jugend zog voran, Jugend der Kraft und des Geistes. — Dann kam jener Abend, wo ich mit meinem Freund B. über den stillen Plan vor dem hoch in die Nacht aufragenden Reichsgericht3 ging und von dem sprach, was des Tages war. Da plötzlich dringt's an unser Ohr: „Es braust ein Ruf wie Donnerhall . . ." Wie Donnerhall ist's in unsere Herzen gebraust; hinauf die stille Wächterstraße ... Da kommen sie schon über den Königsplatz: Kopf an Kopf und Mann an Mann, dicht gedrängt und doch in voller Ordnung. Voran ein Führer und die Banner schwarz-weiß-rot4 und schwarz-golden5, und hinter dem in Reih und Glied der Zug.... Nicht Jünglinge nur siehst du, der Mann, der weiße, scheut sich nicht, mit einzutreten in die Reihen, die wachsend stets sich vorwärts drängen. Die Wangen rot, und hoch schlägt uns das Herz, und ein Gefühl bricht jubelnd aus im deutschen Sang und deutschen Hoch auf unsern Kaiser und den edlen, ehrgebietenden dort drüben. Die Windmühlenstraße hin und weiter und weiter. Da ruft's: zum Völkerschlachtdenkmal!6 Und tausendfachen Widerhall findet der Ruf. Die Straße, die breite, stolze, des 18. Oktober geht der Zug, vorbei mit Jubelruf am mächtigen Werk der Bugra, und schon ragt der mächtige Dom vor uns zum sternbesäten Himmel auf und spiegelt sich schemenhaft im Dunkel des Sees. Ernst schaut St. Michael auf die herab, die stumm und friedlich den Kreis zu seinen Füßen schließen. Einer springt vor und hoch auf eine Platte des Felsenbaus. Ein Student ist's: er spricht und wir lauschen; er spricht von dem, was durch die Welten zittert, was anhebt bald und ringsum droht; was wir sind, sagt er, und was unsere Väter waren; welch Sprache dieser Dom uns redet und der Welt, und was wir schwören zu dieser Stunde für alle Ewigkeit am Grabe derer, die hier einst starben, am Dom, der deutscher Freiheit Werden gewölbt ist hoch empor. . . . Und: der Schwur erschallt, die Woge rinnt, die Fahnen flattern hoch im Wind. . . . Wir singen, das Haupt entblößt, und singen sie, alle die Lieder, die stets der Deutsche sang, wenn große Zeit er lebte!

Noch war nicht das Wort gefallen draußen in der politischen Welt, um so klarer und deutlicher wußten wir alle, der mehr als jener, was kommen sollte. Manches Wort habe ich gesprochen und bin gar wohl in Streit geraten, mit solchen, so ich dachte, daß sie deutscher fühlten.


  1. Das vorangestellte Kürzel "G.C." zeigt, dass der Text der Zensurstelle des Stellvertretenden Generalkommandos in Kassel vor dem Druck vorgelegt und von ihr genehmigt wurde.
  2. Vom 12.-16. Juli 1913 fand in Leipzig das 12. Deutsche Turnfest statt.
  3. Das Reichsgericht hatte seinen Sitz am Simsonplatz, im heutigen Gebäude des Bundesverwaltungsgerichts.
  4. Die Farben der Flagge des Deutsches Reiches.
  5. Die Farben der österreich-ungarischen Flagge.
  6. Das 1913 eingeweihte Denkmal südöstlich der Leipziger Innenstadt, das an die Völkerschlacht bei Leipzig vom 16.-19. Oktober 1813 erinnert.

Personen: Weidemann, Wilhelm
Orte: Leipzig
Sachbegriffe: Studenten · Attentat von Sarajewo · Deutsche Turnfeste · XIII. Deutsches Turnfest · Österreicher · Deutschland, Deutschland über alles · Nationalhymnen · Es braust ein Ruf wie Donnerhall · Flaggen · Völkerschlachtdenkmal · Nationalismus · Stellvertretendes Generalkommando · Zensur
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914, Abschnitt 1: Nachricht vom Attentat von Sarajevo“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/138-1> (aufgerufen am 06.05.2024)