Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Mittelalterliche Glasmalereien in Hessen

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Scherbenkonvolut mit figürlichen Resten (Ehemals Lorsch · Kloster)

Ehemals Lorsch · Kloster (Lage anzeigen) → [Unbekanntes Fenster]
Basisdaten | Katalog | Indizes | Abbildungen
Basisdaten
ID:

112-1-01-01

Band:

III/1

Katalog Seite(n):

179 ff.

Nr.:

o. A.

Titel:

Scherbenkonvolut mit figürlichen Resten (Ehemals Lorsch · Kloster)

Standort heute:

Darmstadt, Hessisches Landesmuseum

Anmerkung:

Inv. Nr. Kg 35:28a und b; Beeh-Lustenberger 1973, Nr. 1f.

Datierung:

um 1050

Zuordnung:

Ehemals Lorsch · Kloster » [Unbekanntes Fenster]

Katalog

Befund

Der bedeutendste Teil des Grabungsfundes Friedrich Behns besteht aus 114 größtenteils bemalten Scherben, die sich vielleicht als Reste einer monumentalen Komposition identifizieren lassen. Von Gottfried Frenzel in den Jahren 1965/1971 geordnet, gesichert und trocken doubliert in drei Platten montiert, sind dies im Wesentlichen etwa 40 Fragmente eines stark verbräunten Kopfes mit hellblauem Nimbus (Inv. Nr. Kg 35:28a; Fig. 109, Abb. 63), rekonstruiert ca. 30 x 27 cm messend, ferner verschieden große Fragmente zweier Füße, weißer und gelber Gewänder und eines grünen, drachenartigen Untiers sowie 23 Fragmente eines grünen Gewandes und Fragmente von weißen und grünen Ornamentborten bzw. -streifen (Inv. Nr. Kg 35:28b; Fig. 113, Abb. 64f.); manche Scherben ließen sich aufgrund passender Bruchkantenanschlüsse wieder zu größeren Stücken zusammensetzen, so Kopf und Leib des Untiers (6 x 12 cm, 7 x 9,5 cm) und Teile des grünen Gewandes (14 x 10 cm, 24 x 10,5 cm)14. | Durch die langjährige Bodenlagerung sind die einzelnen Fragmente meist sowohl in ihrer Substanz als auch in ihrer Bemalung stark angegriffen. So sind mehr oder wenige alle weißen, gelben und grünen Scherben sichtlich verbräunt, bei den weißen Scherben ist die Tönung des Glases nach Grün oder Violett15 nicht mehr zu erkennen. Das grüne Glas weist auch gelegentlich Lochfraß auf. Dennoch ist hier wie auf den gelben Fragmenten die Qualität der ursprünglichen Bemalung noch gut zu erkennen, im Unterschied zu den Kopffragmenten, die jegliche Halbtonmodellierung verloren haben. Allein die unbemalten hellblauen, marmorierten Scherben des Nimbus, deren Struktur karolingischem Glas auffallend ähnelt16, sind in ihrer Substanz vergleichsweise gut erhalten. | Nachdem bereits Heinz Merten – noch als Museumsassistent in Darmstadt – sich 1936 in Zusammenarbeit mit dem Glasmaler Otto Linnemann um eine rekonstruktive Ergänzung der Kopffragmente bemüht hatte (Fig. 107)17, legte Gottfried Frenzel 1965 zur Aachener Europarat-Ausstellung »Karl der Große« eine von Mertens Version deutlich abweichende Rekonstruktion vor (Fig. 108). Sie beruht auf einer größeren Anzahl von Scherben, die Frenzel für den Kopf sichern konnte, und ist daher weniger idealisierend und in manchem Detail, vor allem in der Form des Mundes, genauer. Dennoch bleiben auch bei ihr hinsichtlich der Proportion des Kopfes, zwischen dessen Ober- und Unterteil es keine unmittelbare Verbindung gibt (Fig. 109), und der Form des Haarkranzes, dessen perückenartiger Schopf | eigenartig anmutet und zu dem auch die Locke unten links nicht zwingend dazugehören muss18, gewisse Unsicherheiten bestehen. | Im Zuge der Ordnung des Grabungsfundes durch Frenzel wurden alle von Verfall bedrohten Scherben durch Epoxidharz-Injektionen gefestigt, abgegangene Bemalungen nachgezogen (Beeh-Lustenberger 1973, Nr. 1/11, vermutlich auch Nr. 2/50) und gefährdete Malschichten mit Paraloid gesichert19.

Rekonstruktion, Ikonografie, Stil, Datierung

Da mehrere der 114 erhaltenen Scherben sich zu größeren Stücken zusammenfügen, könnte die Verglasung, aus der sie stammen, bis zu ihrer Zerstörung noch relativ intakt gewesen sein, ja, möglicherweise war dies eine weitgehend vollständige Komposition. Tatsächlich sind außer den verschiedenfarbigen Gewandteilen auch nur Teile eines Kopfes und eines Fußpaares überliefert, d.h. Reste einer etwa lebensgroßen Figur, zu der demnach die Stücke des grünen, sich windenden Untiers und ein paar Scherben mit »Haarsträhnen oder Zotteln eines Felles« (Beeh-Lustenberger 1973, S. 17, Nr. 2/71–78) gehört haben müssten. Dieser letztlich hypothetische, laut Gottfried Frenzel »nach dem glastechnischen Befund«20 aber wahrscheinliche Zusammenhang ist bei der Deutung des Scherbenkonvoluts zu berücksichtigen. Sollte es sich nämlich um eine Christus-Figur gehandelt haben, wäre nicht an eine Pantokrator-Darstellung zu denken, wie Friedrich Gerke 1950 gemeint hat, sondern an eine Darstellung Christi nach Ps 90,13: an eine Figur des sieghaften, triumphierenden Christus, der – stehend oder thronend – mit seinen Füßen auf Löwe und Drachen trat21. Mögliche monumentale Vorbilder für dieses aus der antiken Herrscher-Ikonografie entwickelte Bildthema gab es in Ravenna, wo es zum »festen Motivbestand« der Kunst des 5./6. Jahrhunderts gehörte22. Von den Werken aus karolingischer Zeit ist an erster Stelle jenes Elfenbeinrelief eines Christus triumphans anzuführen, das – als Gegenstück zu einer Muttergottes – auf dem Rückdeckel des Lorscher Evangeliars angebracht war (Fig. 110)23; in Lorsch war dieses Thema also präsent, die Möglichkeit der Rezeption gegeben24. In der Skulptur des 12./13. Jahrhunderts lebte es fort, sodass mit monumentalen Fassungen auch zur Zeit der Ottonen und Salier zu rechnen ist. Gleichwohl bleibt seine Rekonstruktion für Lorsch fraglich, da das Kopffragment sowohl aufgrund des Figurentypus als auch des (heutigen?) Fehlens eines Kreuznimbus nicht sicher auf Christus bezogen werden kann; wenn es stattdessen zu einer Apostel- oder Heiligenfigur gehört hat, wie vermutet wird, dann ist das Scherbenkonvolut als Ganzes nicht schlüssig zu deuten25. | Mit Unsicherheiten ist auch die stilistische Einordnung, namentlich die Datierung der Fragmente behaftet. Was Letztere betrifft, reicht die Spanne der Vorschläge vom 9. bis zum 12. Jahrhundert, wobei die durch Friedrich Gerke geprägte, allein aus dem Kopffragment abgeleitete Datierung in spätkarolingische Zeit heute kaum mehr vertreten wird26. Zweifel an Gerkes zeitlicher Einordnung wurden verschiedentlich geäußert, nicht zuletzt 1977 von Louis Grodecki, doch erst mit Rüdiger Becksmanns wichtigem Beitrag zur vor- und frühromanischen Glasmalerei in Deutschland (1998/99) vermochte sich ein neues, in der jüngeren Literatur durchweg akzeptiertes Datierungsmodell durchzusetzen: Ihm zufolge ist in dem Scherbenkonvolut der letzte Rest eines nach dem Brand 1090 geschaffenen Standfigurenzyklus zu erkennen, der in den »unter Abt Anselm (1088–1101) instandgesetzten Obergadenfenstern des Gründungsbaues« seinen Platz gehabt hätte27. | Becksmann hat die methodischen Schwächen der Argumentation Gerkes benannt und verschiedene Hinweise gegeben, weshalb das Scherbenkonvolut sicherlich nicht in spätkarolingische Zeit datiert und mit dem (ersten) Bau der ecclesia varia verbunden werden kann28. Entscheidend ist jedoch, dass alle Bildvergleiche, mit denen Gerke seinen Datierungsvorschlag belegen möchte, nicht zu überzeugen vermögen, während ausgerechnet jenes Werk, von dem er das Lorscher Fragment abrückt – es ist der sog. Weißenburger Kopf29 –, noch die größte Nähe zu ihm aufweist (Fig. 111). So ist den Überlegungen Grodeckis und Becksmanns zu folgen und das Lorscher Scherbenkonvolut später anzusetzen. Geht man dabei von den überlieferten Baudaten aus, kommt allerdings nicht so sehr eine Datierung um 1090/1100 in Betracht, wie Becksmann sie favorisiert hat, sondern andere, baugeschichtlich zwingendere Optionen sind gegeben: zum einen um 1052 (Weihe der ecclesia varia nach mutmaßlichem Umbau), zum anderen um 1130 bzw. um 1141–1148 (Neuweihe der Klosterkirche nach Brand 1090 bzw. Umbau der Klosterkirche unter Abt Folknand). Am erhaltenen Rest der Kirche sind die Baumaßnahmen Abt Folknands noch abzulesen, und tatsächlich wurden zu seiner Zeit zumindest im westlichen Teil des Langhauses Fensteröffnungen geschaffen, die etwa lebensgroße Standfiguren aufzunehmen vermochten (Fig. 106). Ob diese Maßnahmen sich auf den ganzen, d.h. auch auf den Ostteil des Baues erstreckten, ist zwar nicht bekannt, doch ist dies eher unwahrscheinlich, da die Kirche erst wenige Jahre zuvor neu geweiht worden war; hier mochten entsprechende Fensteröffnungen bereits vorhanden gewesen sein. Gleichwohl dürfte eine Datierung des Scherbenkonvoluts um 1130 oder um 1141–1148 nicht möglich sein – auch nicht bei allen Unsicherheiten bezüglich der Chronologie vor- und frühromanischer Glasmalerei. Es wäre etwa die Zeit, in der die Prophetenfenster im Augsburger Dom entstanden sind, von deren Stil die Lorscher Reste als älteres Werk sich unterscheiden30. Doch auch eine Datierung um 1090/1100 ist nicht wahrscheinlich, da gerade für diese Zeit keine Wiederherstellungsarbeiten belegt sind. So rückt aus baugeschichtlichen Gründen eine Datierung um die Mitte des 11. Jahrhunderts, als ursprünglicher Standort eben doch die ecclesia varia in den Blick. Deren Neuweihe durch Papst Leo IX. in Anwesenheit Kaiser Heinrichs III. darf als Indiz für eine vorausgegangene größere Baumaßnahme gewertet werden. Möglicherweise wurde sie damals zu einem zweigeschossigen Bau erweitert; jedenfalls war in ihr spätestens seit diesem Zeitpunkt Platz für wenigstens drei Altarstellen vorhanden31, sodass in Anbetracht des dafür notwendigen Lichtes auf entsprechend großzügig dimensionierte Fenster geschlossen werden kann. Vom Brand der Klosterkirche 1090 scheint sie im Übrigen nicht betroffen gewesen zu sein32; bis zu ihrem Abbruch in spät- oder nachmittelalterlicher Zeit konnte sie durchaus ihre alte Farbverglasung bewahrt haben. | Innerhalb der relativen Chronologie der ältesten Werke der deutschen monumentalen Glasmalerei rückt das Fragment des Lorscher Kopfes (Fig. 109) damit wieder an den Anfang – und dies umso deutlicher, nachdem der Weißenburger Kopf (Fig. 111) nicht mehr länger in die Zeit um 1060/70 datiert werden kann. Den Forschungen von Denise Borlée zufolge ist ganz offensichtlich, dass Letzterer zusammen mit den Verglasungsresten im Nordquerhaus der ehemaligen Klosterkirche St. Peter in Weißenburg in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts entstanden sein muss33. Diese ebenso überraschende wie im Detailvergleich mit der Figur der thronenden Muttergottes in Weißenburg einleuchtende neue Datierung löst auch den Widerspruch auf, in den Becksmann sich verstrickt hatte, indem er das Lorscher Kopffragment einerseits für »altertümlicher«, andererseits für jünger als den Weißenburger Kopf hielt34: Was im Vergleich mit diesem bei dem Lorscher Fragment »altertümlich« anmutet – die »eigenartige Bildung der Augen«, die schon Gerke beschäftigt hatte, und die »aus einer ›geschleuderten‹ Scheibe geschnittenen hellblauen Gläser des Nimbus« –, | scheint demnach weder eine Rückbesinnung noch ein Rückgriff auf die Farbverglasung des Gründungsbaues zu sein35, sondern lässt sich vielmehr mit einer vergleichsweise frühen Entstehung erklären. Die Form der Augen mit den annähernd gerade verlaufenden Liddeckeln und den zu Halbkreisen gerundeten Unterlidern ist um 1040/50 in der Kreuzigungsminiatur eines Psalters aus Saint-Germain-des-Prés nachzuweisen36, in dessen Initialschmuck außerdem Fabelwesen begegnen (Fig. 112), deren Zeichnung dem »Drachen« aus Lorsch auffallend ähnelt (Fig. 113, Abb. 65); das karolingisch anmutende hellblaue, marmorierte Farbglas des Nimbus mag um die Mitte des 11. Jahrhunderts noch verfügbar und gebräuchlich gewesen sein – zumal in Lorsch, wo in der Gründungszeit des Klosters eine glasverarbeitende Werkstatt existiert haben dürfte37. Hinzu kommt, dass auch die Gewandteile aus dem Lorscher Scherbenkonvolut (Abb. 64f.) in ihrer Spannung und in der Art ihrer Zeichnung an Werke erinnern, die der Mitte oder der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts angehören38. Die Datierung der Fragmente in die Zeit der Weihe der ecclesia varia 1052 lässt sich folglich auch stilgeschichtlich begründen. | Der Verlust jeglicher zeitgenössischer Glasmalereien nicht nur im nahen Umland von Lorsch, etwa in Worms zur Zeit Bischof Burchards († 1025) und seiner Nachfolger, sondern auch in weiter entfernten Orten wie Speyer oder Mainz macht eine genauere stilistische Einordnung des Scherbenkonvoluts indessen unmöglich. Was dort an künstlerisch hochrangigen Verglasungen einmal vorhanden war, vor allem in den von den Herrschern geförderten Bauten in Limburg a. d. Haardt (Weihe 1042 oder 1045) und Speyer (Weihe von Bau I 1061), dürfte aber mit großer Wahrscheinlichkeit das Umfeld gebildet haben, in dem die Lorscher Glasgemälde um die Mitte des 11. Jahrhunderts entstanden. Deren Konzeption ging zwar kaum mehr auf Abt Arnold (1052–1055/56) zurück, zu dessen Amtszeit die ecclesia varia als ihr mutmaßlicher Standort geweiht wurde, doch verdichten sich gerade in seiner Person die Kontakte zu den genannten Zentren: In Lorsch selbst ausgebildet, war er Propst dieses Klosters (bis 1043), bevor er Abt von Weißenburg, Limburg, Corvey und Lorsch wurde und schließlich 1054 zum Bischof von Speyer avancierte39. – Mittelrhein, um 1050.

Indizes
Iconclass:

25FF = Fabeltiere (manchmal fälschlich: Grotesken); Ripa: Mostri · 11H = Heilige

Sachbegriffe:

Bordüren · Füße · Haare · Heiligenscheine · Köpfe · Nimben

Personen:

Jesus Christus

Abbildungen

Bildnachweise

  1. Fragmente eines Heiligen- oder Christuskopfes aus Kloster Lorsch. Darmstadt, HLM, Nr. 1. Mittelrhein, um 1050. – CVMA Band III/1, S. 181 Fig. 109.
    © Corpus Vitrearum Deutschland / Freiburg i. Br. (Rüdiger Tonojan)
  2. Sog. Lorscher Kopf. Rekonstruktion von 1936 (Heinz Merten/Otto Linnemann). – CVMA Band III/1, S. 180 Fig. 107.
    © Heinz Merten, Lorsch
  3. Sog. Lorscher Kopf. Rekonstruktion von 1965 (Gottfried Frenzel). – CVMA Band III/1, S. 180 Fig. 108.
    © Wolfgang Fuhrmannek, Hessisches Landesmuseum Darmstadt
  4. Heiligenkopf aus Weißenburg (Wissembourg). Straßburg, Musée de l'Œuvre Notre-Dame. 2. Hälfte 12. Jh. – CVMA Band III/1, S. 183 Fig. 111.
    © Vitraux de France, Paris 1953
  5. Fragment eines Drachen aus Kloster Lorsch. Darmstadt, HLM, Nr. 1. Mittelrhein, um 1050. – CVMA Band III/1, S. 183 Fig. 113.
    © Corpus Vitrearum Deutschland / Freiburg i. Br. (Rüdiger Tonojan)
  6. Fragmentsammlung. Darmstadt, HLM, Nr. 1. Mittelrhein, um 1050. – Kat. S. 179–184. – CVMA Band III/1, S. 549 Abb. 64.
    © Corpus Vitrearum Deutschland / Freiburg i. Br. (Rüdiger Tonojan)
  7. Fragmentsammlung. Darmstadt, HLM, Nr. 1. Mittelrhein, um 1050. – Kat. S. 179–184. – CVMA Band III/1, S. 549 Abb. 65.
    © Corpus Vitrearum Deutschland / Freiburg i. Br. (Rüdiger Tonojan)
Empfohlene Zitierweise
„Scherbenkonvolut mit figürlichen Resten (Ehemals Lorsch · Kloster)“, in: CVMA Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/cvmahessen/id/112-1-01-01> (aufgerufen am 03.05.2024)