Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Topografie des Nationalsozialismus in Hessen

Weilmünster, Stationshäuser, Heil- und Pflegeanstalt

Klassifikation | Nutzungsgeschichte | Indizes | Nachweise | Abbildungen | Zitierweise
Klassifikation

Kategorie:

Verfolgung

Subkategorie:

Euthanasie 

Nutzungsgeschichte

Beschreibung:

Nach Inkraftreten des GzVeN zum 1. Januar wurden ab 1934 an mindestens 278 Patientinnen und Patienten aus Weilmünster auch Zwangssterilisationen vorgenommen. Die Durchführung erfolgte 1934 bei weiblichen Patientinnen in Wetzlar, bei männlichen Patienten in Weilburg. Ab 1935 erfolgten die Eingriffe bei beiden Geschlechtern in der eigens dafür eingerichteten Sterilisationsabteilung in Herborn, ehe die – nun zahlenmäßig wenigen – Unfruchtbarmachungen aus Kostengründen ab 1939 wieder in Weilburg stattfanden.

Während der zentralen Mordphase waren die Stationshäuser und das pflegerische Personal in die Transporte in die Mordanstalt Hadamar eingebunden. Spätestens an den jeweiligen Transporttagen wurden die Patientinnen und Patienten auf einer der Stationen versammelt. In Weilmünster fuhren die Busse der Gekrat die Stationshäuser F III und M III direkt an. Das Pflegepersonal übergab die Patientinnen und Patienten, persönliche Gegenstände und die Unterlagen der Personen an das „T4“-Personal.

Bezeugt wurden die dramatischen Auswirkungen auf den Zustand der Patienten und Patientinnen in den Heil- und Pflegeanstalten durch die offizielle Besichtigungskommissionen im Jahr 1938. Laut den Berichten kam es in Weilmünster in den Jahren 1937/38 aufgrund ärztlicher Überbelastung zu zahlreichen Todesfällen, da Tuberkuloseerkrankungen der Patientinnen und Patienten zu spät erkannt wurden. Auch mangelte es Beschäftigungsbehandlungen. Dass Patientinnen und Patienten auf Strohsäcken statt auf Matratzen schlafen mussten und Bettlägrige keine Hemden trugen und zum Teil abgemagert waren, sei auf fehlende Ressourcenzuwendung zurückzuführen, so die Kommission.

Im Juli oder August 1941 wurden 70 Männer und 70 Frauen, noch im Rahmen der „Aktion T4“, aus der Anstalt Rotenburg (Provinz Hannover) nach Weilmünster transportiert. Wegen des „Euthanasie“-Stopps verblieben sie in Weilmünster. 59 (= 42%) von ihnen starben noch im selben Jahr. 62 (= 44 %) starben 1942, sieben (= 5%) starben 1943 und drei (= 2%) starben 1944. Die neun Frauen, die bis dahin überlebten, wurden 1944 oder 1945 nach Hadamar verlegt, wo mindestens acht noch vor Befreiung ermordet wurden. Information über Verbleib der neunten Patientin fehlen.

Der systematische Medikamentenmord auf den Stationshäusern der LHA ist v.a. für die Zeit von Herbst 1941 bis Sommer 1942 anzunehmen. Danach sorgten v.a. die praktizierte Überbelegung - mit einer zeitweisen Patientinnen- und Patientenzahl von über 2.000 - und die systematische Unterernährung in Kombination mit der Medikamentengabe zum Massensterben in Weilmünster.

Die Auswirkungen der permanenten massiven Überbelegung und der radikalen Sparmaßnahmen sind in den Beschreibungen der unmenschlichen Zustände auf den Stationen zu finden. Die Räume seien verkommen gewesenen, in denen den Patientinnen und Patienten keinerlei Möglichkeit einer Beschäftigung geboten wurde. Es wurde kaum einmal gebadet, es stand nur kaputtes Geschirr, dünne und mangelhafte Bekleidung zur Verfügung. Der Anstaltsgeistliche Walter Adlhoch berichtete neben der unzureichenden Anzahl an Wäsche von ständigem Durchfall auf den Stationen, zeitweise wurde durch die katastrophalen hygienischen Bedingungen eine Ruhrepidemie in der LHA ausgelöst. Vielfach durchgefaulte Betten wurden durch Strohschütten ersetzt, die Patientinnen und Patienten lagen tagsüber in Badewanne, wo die Sterbenden zum Teil auch die Krankensalbung gespendet bekamen.

In einem Patientenbrief von 1943 ist eine exemplarische Tagesrationen Essen beschrieben: zwei Scheiben Brot mit Marmelade und mittags und abends je 0,75 Liter Wasser mit Kartoffelschnitzel und holzigen Kohlrübenabfällen und um angefaultes Obst haben sich Patienten gerissen. Bekräftigt wird diese Beschreibung zum einen durch einen Pfleger, der für 1944 bestätigte, dass sich Patienten um faule Kartoffelschalen schlugen und zum anderen die Zeugenaussage des Küchenchefs von 1946, wonach die tägliche Kartoffelration im Winter 1944 erst auf 250 Gramm und eine Woche später auf 150 Gramm pro Person reduziert worden sei. Der vom Bezirksverband gewollte, gezielte Nahrungsentzug trug entscheidend zum Sterben vieler Patientinnen und Patienten bei.

Einschätzung von Staatsanwaltschaft und Gutachtern wird durch Patientenaussagen gestützt. Der zuständige Arzt Dr. Link habe viele Menschenleben auf dem Gewissen und Stationsschwester Margarete W. sei besonders „behilflich“ gewesen. Die Station F III u sei eine „furchtbare Mordabteilung“ gewesen, auch auf Station F III o habe es „viele Spritzen und Tabletten gegeben“, während auf Station F II u nach Kenntnis dieser Zeugin „nicht direkt gemordet“ worden sei. Auch Dr. Bindseil habe „zur Beruhigung“ Medikamente verordnet, woraufhin die Patientinnen sehr schnell verstarben.

Eine Schwester bestätigte in einer Zeuginnenaussage die Verabreichung von Trional-Tabletten und Apomorphin-Spritzen zur „Strafe“. Die Stationsschwester soll Beruhigungsmittel im Einzelfall auch ohne Rücksprache mit den zuständigen Ärzten verabreicht haben.

Einem weiteren Patienten galt die Abteilung M III o als „Ausrottungsabteilung“. Die sogenannten Iller-Häuser waren Todesstationen, die von den Patientinnen und Patienten kurzzeitig bewohnt werden sollten, die nach Hadamar transportiert werden sollten. Vermutung liegt nahe, dass die Iller-Häuser zu einem „Ersatz“ für die geschlossene Gaskammer Hadamars wurde.

Überliefert ist auch die gezielte Ausübung von Gewalt durch das Pflegepersonal. Die von den Patientinnen und Patienten als „Strafbehandlung“ empfundene Behandlung umfasste Schläge, Tritte, Dauerbäder und das Einwickeln in nasse Laken über Stunden, teilweise auch über Tage und Wochen sowie das stunden- und tagelange Einsperren in kalten Zellen, bei denen die Menschen vollständig entkleidet waren. Außerdem sei es zum einen zur Verabreichung sogenannter „Kotzspritzen“ gekommen, die stundenlanges Übergeben nach sich zogen. Zum anderen sei es zur Gabe sogenannter „Schwefelspritzen“ gekommen, die eine stark gesteigerte Schmerzempfindlichkeit an der Einstichstelle nach sich zogen. Eine Steigerung dieser Gewaltausübung erfolgte durch Schläge und gezieltes Massieren dieser Bereiche. Außerdem habe es „Kreuzigungen“ gegeben, bei denen es zu Überstreckungen der Gliedmaßen kam. Bereits 1938 kam es zu einem Gewaltexzess auf der Station M IV. Dabei schlug ein Pfleger einen Patienten mit einem Stock zu Boden. Ein weiterer Pfleger - Erich M. - trat daraufhin auf den Patienten ein, der wenig später aufgrund eines erlittenen Nierenrisses verstarb. Der ärztliche Direktor Dr. Ernst Schneider brachte den Fall zur Anzeige. Beide wurden zu je drei Monaten Haft verurteilt, die sie - offenbar aufgrund Intervention Fritz Bernotats - nicht verbüßen mussten. Erich M. war darüber hinaus in den Anstalten Bernburg, Grafeneck, Hadamar und Kaufbeuren an Gas- und Medikamentenmorden beteiligt.

Die LHA Weilmünster war auch in die neurowissenschaftliche Forschung eingebunden. Im Sommer 1942 wurden mindestens 15 Gehirne entnommen und an die Forschungsabteilung Prof. Carl Schneiders an die Universität Heidelberg übergeben. Die acht Patientinnen und sieben Patienten im Alter zwischen 32 und 61 wurden zwischen dem 11. Juni und 12. September 1942 ermordet. In den Patientinnen- und Patientenakten der Opfer findet sich oftmals die Feststellung einer „Epilepsie“. Die Sektion erfolgte in Weilmünster selbst, während der ärztliche Direktor Dr. Ernst Schneider später behauptete, es habe während des Kriegs überhaupt keine Sektionen gegeben, geschweige denn eine Versendung von Gehirnen nach Heidelberg. Dabei sind in sieben Fälle sogar ausdrücklich im Sektionsbuch der Anstalt vermerkt. Durch ärztliche Begutachtung 1949 wurde eine überhöhte Schlafmittelgabe festgestellt, die in vielen Fällen als wahrscheinliche Todesursache ausgemacht wurde, mindestens aber zum Tod beigetragen habe.

Nutzungsanfang (früheste Erwähnung):

1933

Nutzungsende (späteste Erwähnung):

1945

Nutzung vor NS-Zeit:

1895 Baubeginn

Indizes

Orte:

Weilmünster

Sachbegriffe:

Verfolgung · Euthanasie · Gesundheitswesen · Zwischenanstalten

Nachweise

Weblinks:

Gedenkort Kalmenhof e.V.: Gedenkbuch Weilmünster (31.5.2023)

Fachtagung: "'Zwischenanstalten'. Ein besonderer Typus Anstalt im NS"? (15.11.2023)

Landesamt für Denkmalpflege: "Psychiatrisches Landeskrankenhaus, Ehem. Irren-, Heil- und Pflegeanstalt" (1.7.2022)

Abbildungen

Abbildungen:

Zitierweise
„Weilmünster, Stationshäuser, Heil- und Pflegeanstalt“, in: Topographie des Nationalsozialismus in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/nstopo/id/3536> (Stand: 18.2.2024)