Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Zeitgeschichte in Hessen - Daten · Fakten · Hintergründe

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Die Frankfurter Großmarkthalle, um 1930

Literatur

Deportation Buchsymbol

Deportationen

  1. Übersicht
  2. Frühe Deportationen: „Polenaktion“ und „Reichspogromnacht“
  3. In den Jahren 1941 und 1942: systematische Deportation und Ermordung der Juden
  4. Übersicht der Zielorte der Deportationen jüdischer Bürger aus Hessen
  5. Deportationen aus Frankfurt am Main
  6. Die drei in den Jahren 1941 und 1942 zentral durchgeführten Deportationen der jüdischen Bevölkerung im Regierungsbezirk Kassel
  7. Deportationen aus Darmstadt

1. Übersicht

Deportationen, die gewaltsame, staatlich angeordnete und verwaltete Verbringung von unerwünschten Menschen aus dem Land hinaus in andere Gebiete oder – wie im Falle der nach Deutschland verschleppten Zwangsarbeiter im Zweiten Weltkrieg – die Verbringung von Ausländern aus ihrer Heimat auf eigenes (oder besetztes) Territorium, wurden während der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland als probates Mittel der Politik angesehen, um insbesondere politische Oppositionelle, als „asozial“ Ausgegrenzte und „Rassenfremde“ aus dem „Volkskörper“ zu entfernen.

Der NS-Staat entwickelte systematische Pläne, Juden, Sinti und Roma und andere aus dem Deutschen Reich und schließlich ganz aus dem deutschen Herrschaftsbereich hinaus zu deportieren.

In Zusammenarbeit mit Ministerien, lokalen Behörden und Ämtern (z. B. den städtischen Arbeitsämtern), der Reichsbahn und zahlreichen anderen Stellen veranlasste das bei der Organisation der Deportationen federführende Reichssicherheitshauptamt gemeinsam mit der Gestapo ab Mitte Oktober 1941 eine in großem Stil organisierte, reichsweite Verfolgung und Verschleppung der Juden. Das Reichssicherheitshauptamt (kurz: RSHA), eine kurz nach Kriegsbeginn am 27. September 1939 durch Zusammenlegung von Sicherheitspolizei (Sipo) und Sicherheitsdienst (SD) gegründete Behörde mit etwa 3.000 Mitarbeitern, fungierte innerhalb des NS-Machtapparates als eines von zwölf Hauptämtern der SS und als die zentrale Behörde zur Leitung der deutschen Sicherheitsorgane. Es gab die Reihenfolge der Städte und Landkreise, in denen die Juden gewaltsam zur „Abwanderung“ gezwungen werden sollten sowie einen dafür vorgesehenen Zeitpunkt und eine anvisierte Personenzahl verbindlich vor.

Auf dem Gebiet des heutigen Hessen wurden während des Zweiten Weltkriegs Abertausende von Mitbürgern jüdischer Herkunft Opfer brutaler Deportationen, die teils in Massentransporten durchgeführt wurden und die Menschen ab Oktober 1941 systematisch in Ghettos und Arbeitslager in den besetzten Ostgebieten und von dort später zu ihrer Ermordung in sogenannte Vernichtungslager führten.

2. Frühe Deportationen: „Polenaktion“ und „Reichspogromnacht“

(A) „Polenaktion“

Die frühesten Deportationen, mit denen jüdische Bürger gewaltsam von hessischem Boden aus in die Fremde verbracht wurden, fanden im Zuge der sogenannten Polenaktion Ende Oktober 1938 statt. Die „Polenaktion“ bildete den vorläufigen Höhepunkt in einem seit Jahresbeginn verfolgten Vertreibungsmechanismus, der bereits zu Beginn 1938 mit der Ausweisung von etwa 500 sowjetischen Juden seinen Anfang nahm. Die Maßnahme - als „Vergeltung“ für die Ausweisung einiger Deutscher aus der Sowjetunion gedacht - wurde von der Sowjetunion jedoch durchkreuzt, indem sie den betroffenen Personen die Einreise verweigerte. Als nächstes traf es die nach der Annexion noch nicht aus dem Sudetenland geflohenen Juden, die man auswies und an die tschechische Grenze deportierte. Die tschechische Regierung versuchte, die Verschleppten weiter nach Ungarn abzuschieben, wo sie jedoch nicht aufgenommen wurden, sodass Tausende im Grenzgebiet zwischen beiden Staaten in Zelten kampierten.

Ab dem 26. Oktober 1938 hatten alle polnischen Staatsangehörigen jüdischen Glaubens binnen einer Frist von drei Tagen das Reichsgebiet zu verlassen. Die kurzfristig anberaumte Abschiebung der polnischen Juden traf viele Betroffene völlig unvorbereitet. Unter Zwang wurden allein aus Frankfurt etwa 2.000 Menschen von der Gestapo und der SS an die polnische Grenze verbracht und dort im Niemandsland „ausgesetzt“.

Die in Zusammenhang mit der „Polenaktion“ durchgeführten Zwangsverbringungen (und ebenso die nachfolgenden Deportationen) endeten oftmals nicht mit dem Erreichen des ersten Zielpunkts, der vom Ort der Verschleppung aus angesteuert wurde. Oftmals erwiesen sich die Zugfahrten, die die Menschen aus Frankfurt oder aus anderen Städten heraus Richtung Osten verbrachten, nur als Anfangspunkt längerer und leidvoller Odysseen, die in aller Regel in den Konzentrations- und Vernichtungslagern im besetzten Polen und Weißrussland endeten.

So wurde zum Beispiel der in Oświęcim/Auschwitz geborene polnische Staatsbürger und Kaufmann Loebel Katz im Rahmen der „Polenaktion“ verhaftet und nach Polen abgeschoben. Katz lebte zunächst ab 1895 in Offenbach am Main und ab 1910 in Frankfurt am Main. Er stellte am 5. Juni 1939 für sich und einen Teil seiner Familie einen Antrag zur Ausfuhr von Umzugsgut nach Großbritannien. Die Behörden genehmigten zwar den Antrag, die Emigration der jüdischen Familie scheiterte jedoch aus unbekannten Gründen. Katz kehrte im Anschluss an seine Deportation allerdings nach Frankfurt am Main zurück und wurde am 9. September 1939 erneut von der Gestapo verhaftet. Ab Mitte Oktober 1939 inhaftierte man ihn als „Schutzhäftling“ im Konzentrationslager Buchenwald. Von dort aus gelangte er am 24. Oktober 1940 in das Konzentrationslager Dachau und am 5. Juli 1941 erneut zurück nach Buchenwald.

(B) Deportationen in Zusammenhang mit der „Reichspogromnacht“ – die „Judenaktion vom 10.11.1938“

Zahllose Deportationen von in Hessen lebenden jüdischen Bürgern schlossen sich unmittelbar an die Geschehnisse der „Reichspogromnacht“ vom 9. auf den 10. November 1938 an. Ab dem 10. November inhaftierte man reichsweit etwa 31.000 Juden in den Konzentrationslagern, Hunderte von ihnen wurden ermordet oder starben an den Haftfolgen.1

Zentrale Sammelpunkte bestanden 1938 für das Rhein-Main-Gebiet in Frankfurt am Main (Festhalle) und für Nordhessen in Kassel (Hohenzollernkaserne), von wo aus es für die aus Hessen deportierten Juden mehrheitlich in das Konzentrationslager Buchenwald ging. Unter oftmals erniedrigenden Umständen gelangten die Verhafteten vielfach aber auch in Ortsgefängnisse. Eigentlich nur als Durchgangsstationen gedacht, wurden auch die örtlichen Gefängnisbauten mangels ausreichender Aufnahmekapazitäten der Konzentrationslager zu schreckenerregenden Ausweich-„Quartieren“, in denen die Häftlinge tage- und wochenlang ihr Dasein fristeten. Dabei plante die Gestapo allerdings keine dauerhafte Inhaftierung der festgenommenen Juden. Die Deportation in die Konzentrationslager stellte vielmehr eine Form von „Erpressung“ dar, um die Auswanderung der Juden aus Deutschland und die „Arisierung“ jüdischer Firmen und jüdischer Vermögen schnellstmöglich voranzutreiben.2

Allein in Kassel wurden im Rahmen der Reichspogromnacht 258 Juden verhaftet und als sogenannte Aktionsjuden in das Konzentrationslager Buchenwald gesteckt. Für ganz Nordhessen beziffert sich die Zahl der zwischen dem 10. und dem 14. November dorthin verschleppten jüdischen Bürger auf 696.3 In Buchenwald pferchte man ab dem 10. November 1938 in fünf behelfsmäßig aufgebauten Notbaracken etwa 12.500 Menschen unter furchtbaren Bedingungen zusammen. 9.845 von ihnen gelangten zwischen dem 10. und dem 14. November dorthin.

Die Novemberpogrome, die in Hessen in einigen Orten bereits am 7. November begannen, die sich daran anschließende „Judenaktion vom 10.11.1938“ und die mit Wirkung vom 12. November durch den Beauftragten für den Vierjahresplan Hermann Göring (1893–1946) erlassenen „Pogromverordnungen“, die die „Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ zum Ziel hatten, bildeten den Auftakt zur planmäßigen Vertreibung und Vernichtung der Juden in Deutschland. Sie waren Vorspiel und schufen die Grundlage zur Errichtung einer „Reichszentrale für die jüdische Auswanderung“. Ein entsprechender Auftrag wurde am 24. Januar 1939 von Hermann Göring an den Chef der Sicherheitspolizei und des SD, Reinhard Heydrich (1904–1942), erteilt. Diese Behörde hatte zum Ziel, die „Auswanderung der Juden aus Deutschland mit allen Mitteln zu fördern.“4

3. In den Jahren 1941 und 1942: systematische Deportation und Ermordung der Juden

Ab Mitte Oktober 1941 startete die massenhafte Deportation deutscher Juden in die besetzten Ostgebiete. Beginnend mit einem ersten Deportations-„Sonderzug“ aus Frankfurt am Main, der die Stadt am Morgen des 20. Oktober 1941 verließ, wurden von Oktober 1941 bis September 1942 in einem Zeitraum von nur elf Monaten in 15 Massendeportationen mehr als 15.500 jüdische Menschen aus etwa 250 Dörfern und Städten der hessischen Gebiete des vormaligen Volksstaats Hessen und der preußischen Provinz Hessen-Nassau verschleppt. Zwischen 1943 und 1945 kam es zu weiteren Deportationen von Menschen jüdischer Herkunft aus Hessen, die im Einzelnen allerdings nicht mehr den Umfang der Massentransporte von 1941/42 erreichten.

Ausgangspunkt der Transporte waren in den Jahren 1941 und 1942 drei zentrale Sammellager in Kassel, Frankfurt am Main und Darmstadt. Um die unter Androhung schwerster Strafen und unter Verzicht fast aller ihrer Habseligkeiten aus ihren Wohnungen gezwungenen Menschen bereits nahe ihres Herkunftsortes zusammenzuführen, gab es unter anderem in Gießen, Friedberg, Wiesbaden und Mainz zusätzliche größere regionale Sammelpunkte, die in Schulen, Turnhallen oder früheren jüdischen Gemeindehäusern eingerichtet wurden.

Die Erfassung und der Abtransport der zur Deportation vorgesehenen Personen fanden nicht selten unter Beteiligung von Repräsentanten der Reichsvereinigung der Juden statt, die sich – teils gezwungen, teils freiwillig, in der Hoffnung, eine „mildere“ Vorgehensweise erwirken zu können – bereiterklärt hatte, den unabwendbar erscheinenden Auszug aus dem Deutschen Reich organisatorisch zu unterstützen.

Dabei blieb den Leitern der Bezirksstellen der Reichsvereinigung in Erfüllung ihrer polizeilich zugewiesenen Aufgaben und in großer Abhängigkeit vom Gutdünken der für die Deportationen zuständigen Gestapo- oder Gauleiter-Stellen der NSDAP oftmals allerdings nicht viel mehr übrig, als die Zahl derer, die zusätzlich zu den in den Deportationslisten Aufgeführten verhaftet wurden, gering zu halten oder den Versuch zu unternehmen, die Atmosphäre bei den Deportationen für die Betroffenen so angenehm wie möglich zu halten.

4. Übersicht der Zielorte der Deportationen jüdischer Bürger aus Hessen

Zielorte der Deportationen jüdischer Bürger aus Hessen waren das von der deutschen Propaganda als „Altersghetto“ verklärte KZ Theresienstadt (Tschechien), das als Zwischenstation vor der Verschleppung in die Vernichtungslager dienende Ghetto Litzmannstadt (Łódź) in Polen, die ebenfalls im besetzten Polen liegenden Vernichtungslager Treblinka und Sobibor, die Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek und Belzec bei Lublin, Piaski (Ghetto), Izbica (1942 kurzzeitig Konzentrations- und Durchgangslager) und Auschwitz (Konzentrations- und Vernichtungslager), das jüdische Ghetto und das als Vernichtungsort genutzte „IX. Fort“ in Kaunas (Litauen), das Ghetto und das Vernichtungslager Maly Trostinez in bzw. bei Minsk (Weißrussland), das Ghetto und Konzentrationslager Kaiserwald in Riga (Lettland) und Tallinn (Estland).5

5. Deportationen aus Frankfurt am Main

Von Frankfurt am Main ausgehend erfolgten 1941 (drei Deportationen) und 1942 (sieben Deportationen) größere Transporte jüdischer Bürger, die aus Frankfurt am Main selbst, aus Wiesbaden oder den benachbarten Landkreisen stammten. Die Zahl der Deportierten betrug bei diesen Transporten jeweils etwa 1.000 Personen. 1943 (neun Deportationen) und 1944 (fünf Deportationen) verringerte sich dann die Größe der einzelnen Verbringungen erheblich, nämlich auf durchschnittlich nur noch 14 Personen, wobei die Zahl der bei einer Einzel-„Maßnahme“ betroffenen Personen zwischen einer und mehr als 50 schwankte. Zusätzlich zu den im Einzelnen nachweisbaren Transporten erfolgte 1943 und 1944 die sukzessive Verschleppung von jährlich schätzungsweise 100 weiteren jüdischen Bürgern ab Frankfurt am Main in das Vernichtungslager Auschwitz.6

Vor der „Machtergreifung“ durch die Nationalsozialisten bildeten in Frankfurt am Main über 26.000 jüdische Bürger den größten jüdischen Bevölkerungsanteil einer deutschen Großstadt. Im Oktober 1941 lebten noch knapp über 10.000 Juden in der Mainmetropole.

Der erste hessische Deportationszug mit etwa 1.125 Menschen verließ das als „Sammelstelle“ und Abfahrtort benutzte Gelände der Großmarkthalle im Frankfurter Stadtteil Ostend am frühen Morgen des 20. Oktober 1941. Bereits am Frühmorgen des Vortags standen ohne Ankündigung Gestapo, SS- und SA-Männer vor den Wohnungen der jüdischen Familien. Bepackt nur mit dem Nötigsten wurden sie mit einem Schild um den Hals durch die ganze Innenstadt zu Fuß zur Großmarkthalle getrieben.

In den Kellerräumen der Großmarkthalle mussten die betroffenen Juden fast ihren ganzen restlichen Besitz dem Deutschen Reich überlassen und ihre Hausschlüssel abgeben. Gestapo und Polizei sowie Beamte der Stadt und der Finanzbehörden beteiligten sich an dem entwürdigenden Prozedere, das auch Leibes- und Gepäckvisitationen umfasste. Schließlich wurde den zur Deportation bestimmten Juden noch 50 Mark Fahrgeld für ihre Fahrt in den Tod abverlangt. Ziel der Zwangsverbringung der jüdischen Frankfurter Bürger war das Ghetto Litzmannstadt in Łódź rund 120 Kilometer südwestlich von Warschau im besetzten Polen. Lediglich zwei der 1.180 bei dieser Deportation verschleppten Juden sollten das Kriegsende und die deutsche Kapitulation am 8. Mai 1945 erleben.

Am 11. und am 22. November 1941 folgten zwei Deportationszüge, die zusammen rund 2.000 jüdische Bürgerinnen und Bürger Frankfurts (sowie einige wenige Personen von außerhalb) in das Ghetto nach Minsk (Weißrussland) und in das Ghetto (und spätere Konzentrationslager) Kauen in der litauischen Stadt Kaunas abtransportierten.

Im Mai und im Juni 1942 schlossen sich daran die nächsten ab Frankfurt am Main gen Osten destinierten Massenverbringungen von Menschen jüdischer Herkunft an. Drei Transporte (am 8. Mai, am 24. Mai und am 11. Juni) mit jeweils zwischen 900 und 1.000 Menschen aus Frankfurt am Main und Wiesbaden hatten das Konzentrationslager Majdanek oder das Durchgangsghetto Izbica zum Ziel. Drei weitere Transporte verließen am 18. August (1.022 Menschen aus Frankfurt am Main), am 1. September (588 Frankfurter, 356 Personen aus Wiesbaden sowie 165 aus den um Frankfurt herum liegenden Landkreisen) und am 15. September (1.367 Frankfurter Bürger) die Stadt Richtung Theresienstadt (Terezín, heute in Tschechien). Das in der Garnisonsstadt im November 1941 zunächst vor allem für die jüdische Bevölkerung Böhmens und Mährens eingerichtete Sammel- und Durchgangslager wurde nach der Wannseekonferenz 1942 zunehmend zum Ziel von Transporten, mit denen man besonders auch alte oder als prominent geltende Juden aus Deutschland und anderen besetzten europäischen Ländern deportierte. Am 24. September 1942 erfolgte dann der letzte Transport der Welle von Massendeportation der Jahre 1941/42. Er endete für viele der 234 Verschleppten im estnischen Raasiku (Raziku), knapp 30 Kilometer südöstlich vor Reval, wo ein Teil der Verschleppten mit Bussen in die nahegelegenen Ostseedünen verbracht und dort ermordet wurde. Die jüngeren, arbeitsfähigen Frauen und Männer internierte man zur Zwangsarbeit in Lagern rund um Reval.

Kleinere Gruppen von jüdischen Bürgern wurden während der Jahre 1943 und 1944 immer wieder auch vom Frankfurter Hauptbahnhof aus abtransportiert. Bei ihnen handelte es sich um Menschen jüdischer Herkunft, die in sogenannten Mischehen mit nicht-jüdischen Partnern zusammenlebten. Sie waren zwar anfänglich von den Deportationen ausgenommen worden, jedoch gab man sich von Seiten der Gestapo und anderen Verwaltungsstellen besonders in Frankfurt am Main große Mühe, auch diese Personengruppe allmählich aus der Stadt „verschwinden“ zu lassen, um schließlich für die einst zweitgrößte jüdische Gemeinde in Deutschland (nach Berlin) den im NS-Staat als „prestigeträchtig“ angesehenen Status „judenfrei“ zu erlangen.7

Am 14. Februar 1945 erfolgte die letzte größere (191 Personen aus Frankfurt, 25 aus Wiesbaden, acht aus Darmstadt, 60 aus hessischen bzw. hessisch-nassauischen Orten und weitere 18 aus dem Bereich Koblenz), und am 15. März – genau 14 Tage vor der Einnahme der Stadt durch die US Army – noch eine kleinere Deportation (fünf Personen) aus der Mainmetropole. Die beiden letzten Transporte hatten jeweils Theresienstadt zum Ziel.8 Der Transport am 14. Februar war die einzige Deportation von jüdischen Bürgern aus Hessen, die alle Betroffenen bis über das Kriegsende und den endgültigen Zusammenbruch des nationalsozialistischen Terrorregimes hinaus überlebten.

6. Die drei in den Jahren 1941 und 1942 zentral durchgeführten Deportationen der jüdischen Bevölkerung im Regierungsbezirk Kassel

Die behördliche Vorbereitung und „reibungslose“ Durchführung der Verschleppung kann auf Ebene der Landkreise und Städte anhand von minutiös festgelegten Abfahrtszeiten und Durchführungsanordnungen in einigen Fällen fast vollständig rekonstruiert werden, so zum Beispiel im Regierungsbezirk Kassel, wo die Deportation der verbliebenen jüdischen Bevölkerung zwischen Dezember 1941 und September 1942 in drei zentral durchgeführten Transporten vollzogen wurde.9 Im Regierungsbezirk Kassel zählte die Geheime Staatspolizei im Frühjahr 1941 rund 3.000 jüdische Bürgerinnen und Bürger. Von ihnen lebten etwa 1.300 in der Stadt Kassel.

1. Deportationszug ab Kassel am 9. Dezember 1941

Der erste Deportationszug verließ Kassel mit dem Ziel Riga am 9. Dezember 1941 mit 1.034 Personen. Das Durchschnittsalter der Verschleppten lag bei 39 Jahren, nur 100 Menschen aus diesem Transport überlebten das Ende des Krieges. Im Einzelnen stammten die Deportierten aus den Städten Kassel (475 Personen), Fulda (135) und Marburg (43) sowie aus den Landkreisen Eschwege (103), Marburg (85), Melsungen (49), Witzenhausen (43), Frankenberg (31), Hünfeld (26), Fulda (23) und Fritzlar-Homberg (21). Die Zuleitungszüge aus diesen Städten und Kreisen erreichten Kassel überwiegend bereits am 8. Dezember. Als zentraler Sammelpunkt diente eine bereits im November 1941 von der Gestapo eingerichtete Sammelstelle in der Turnhalle der Bürgerschule für Jungen in der Schillerstraße (Heute steht an diesem Platz die Walter-Hecker-Schule Städtische Berufsschule der Stadt Kassel). Tags darauf, in den Morgenstunden des 9. Dezember, bewegte sich ein Zug von mehr als tausend Menschen in Richtung des Kasseler Hauptbahnhofs, darunter 90 Kinder bis zum zehnten Lebensjahr, um von dort die Fahrt nach Riga anzutreten.10

2. Deportationszug ab Kassel am 1. Juni 1942

Ein weiterer Deportationszug verbrachte am 1. Juni 1942 508 Menschen jüdischer Herkunft aus dem Bezirk Kassel in das Konzentrationslager Majdanek (Lublin) sowie in das Durchgangslager Izbica bzw. das Vernichtungslager Sobibor (direkt an der Ostgrenze des heutigen Polen im Dreiländereck Polen–Weißrussland–Ukraine). Der Koppelzug mit der Kennung „Da 57“ beförderte 99 Einwohner der Stadt Kassel und 409 Menschen aus den kreisfreien Städten Fulda (36), Hanau (29) und Marburg (25) sowie aus den Landkreisen Hanau (57), Rotenburg (45), Ziegenhain (39), Marburg (34), Waldeck (29), Eschwege (17), Hersfeld (14), Melsungen (11), Frankenberg (10), Wolfhagen (10), Fritzlar-Homberg (9), Schmalkalden in Thüringen (9), Fulda (6), Hofgeismar (4), Hünfeld (2) und Witzenhausen (1). In Lublin angelangt, kam es auf einem Nebengleis zur „Selektion“ von Teilen des Transports. Etwa 98 bis 115 Männer im Alter zwischen 15 und 50 Jahren wurden von der SS aus dem Zug herausgenommen und in das Lager Majdanek eingewiesen. Die übrigen Insassen – Frauen, Kinder und Alte – setzten anschließend vermutlich die Fahrt direkt in das Vernichtungslager Sobibor fort.

3. Deportationszug ab Kassel am 7. September 1942

Der dritte und letzte große Deportationszug (Zugnummer „Da 511“), der jüdische Bürger aus der nordhessischen Metropole in Arbeits- und Vernichtungsstätten des NS-Terrorregimes transportierte, ging am 7. September 1942 mit insgesamt 755 Personen in das Konzentrationslager Theresienstadt. 207 von ihnen wurden im September und Oktober 1942 weiter in das Vernichtungslager Treblinka verschleppt. Im Frühjahr 1943 überstellte man zunächst 87 und im Laufe des Jahres 1944 weitere 157 Insassen dieses Transportes nach Auschwitz. Nur 70 Menschen, die mit dem dritten Kasseler Deportationszug nach Theresienstadt und von dort aus weiter in den Osten gelangten, erlebten die Übergabe des Konzentrationslagers an das Rote Kreuz im April 1945 und die Ankunft der Roten Armee am darauffolgenden 8. Mai.

7. Deportationen aus Darmstadt

Zwischen März 1942 und September 1943 wurden über den Güterbahnhof Darmstadt mehrere Massendeportationen durchgeführt. Zu den Deportierten zählten nicht nur mehr als 3.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder, sondern auch Hunderte von Sinti-Familien, die aus der Landeshauptstadt des damaligen Volksstaates Hessen in die Konzentrations- und Vernichtungslager im Osten abtransportiert wurden. Ein erster Deportationszug mit etwa 1.000 Personen verließ die Stadt am 25. März 1942. Sein Ziel war das (Durchgangs-) Ghetto im jüdischen Schtetl in Piaski, etwa 21 Kilometer südöstlich der ehemaligen polnischen Hauptstadt Lublin. Von dort aus wurden zahlreiche Deportierte dieses Transports später in das zeitweise als Vernichtungslager genutzte Konzentrationslager Majdanek weiterverschleppt. Weitere Transporte erfolgten am 27. September 1942 in das Ghetto Theresienstadt (1.288 Personen) und am 30. September 1942 in das Vernichtungslager Treblinka (883 Personen). Für die Zusammenführung der am 27. und am 29. September durchgeführten Transporte wurde zwischen dem 14. September und dem 2. Oktober die Justus-Liebig-Schule in der Julius-Reiber-Straße (Nr. 3) als Durchgangslager genutzt.

Von den insgesamt 15.500 bei den Massendeportationen der Jahre 1941 und 1942 verschleppten Juden aus ganz Hessen (ehemaliger Volksstaat und preußische Provinz Hessen-Nassau) überlebten den Krieg nur etwa 500 Personen.

Kai Umbach


  1. In einem geheimen Fernschreiben des Chefs der Politischen Polizei (Geheimes Staatspolizeiamt, Gestapa) Heinrich Müller (1900–1945) wurde allen Staatspolizeistellen bereits am 9. November gegen Mitternacht mitgeteilt, dass die „Festnahme von etwa 20-30000 Juden im Reiche“ „vorzubereiten“ sei. Vgl. „Aktionen beginnen in kürzester Frist!“: Geheimes Fernschreiben des Chefs der Geheimen Staatspolizei Heinrich Müller an alle Staatspolizei(leit)stellen vom 9. November 1938 um 23.55 Uhr, abgedruckt in: Wolf-Arno Kropat, Kristallnacht in Hessen. Das Judenpogrom vom November 1938: Eine Dokumentation (Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen 10), Wiesbaden 1988, S. 74 f.
  2. Vgl. Wolf-Arno Kropat, Kristallnacht in Hessen. Das Judenpogrom vom November 1938: Eine Dokumentation (Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen 10), Wiesbaden 1988, S.167 und 169.
  3. Vgl. Thomas Schattner, 8. November 1938: Die Reichspogromnacht in Homberg, in: Rundbriefe des Verein zur Förderung der Gedenkstätte und des Archives Breitenau e.V., Nr. 27, März 2008, S. 56-62 (Stand: 16.7.2012).
  4. Vgl. DigAM – digitales archiv marburg / Hessisches Staatsarchiv Marburg: Pogromnacht – Auftakt am 7. November 1938 in Hessen, Online-Version der gleichnamigen Ausstellung im Hessischen Staatsarchiv Marburg 5.11.2008–15.5.2009, bearbeitet von Reinhard Neebe: Ausstellungsraum 3. Die „Judenaktion vom 10.11.1938“ und die Pogromverordnungen vom 12. November 1938 (Stand: 16.7.2012).
  5. Vgl. Monica Kingreen, „Wir werden darüber hinweg kommen“. Letzte Lebenszeichen deportierter hessischer Juden. Eine dokumentarische Annäherung, in: Christoph Dieckmann/Birthe Kundrus/Beate Meyer u.a. (Hrsg.), Die Deportation der Juden aus Deutschland: Pläne – Praxis – Reaktionen 1938–1945 (Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 20), Göttingen 2004# 392311321, S. 86-111, hier: S. 89.
  6. Im Zuge der 1941 und 1942 organisierten Massendeportationen gelangte kein einziger Jude aus Hessen direkt in das Vernichtungslager Auschwitz, vgl. Kingreen, „Wir werden darüber hinweg kommen“#392311321, S. 86.
  7. Vgl. Monica Kingreen, Gewaltsam verschleppt aus Frankfurt. Die Deportationen der Juden in den Jahren 1941–1945, in: dies. (Hrsg.), „Nach der Kristallnacht“. Jüdisches Leben und antijüdische Politik in Frankfurt am Main 1938–1945 (Schriftenreihe des Fritz Bauer Instituts 17), Frankfurt am Main/New York 1999, S. 357-402; Beate Meyer, Handlungsspielräume regionaler jüdischer Repräsentanten (1941–1945): Die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland und die Deportationen, in: Christoph Dieckmann/Birthe Kundrus/Beate Meyer (Hrsg.), Die Deportation der Juden aus Deutschland: Pläne – Praxis – Reaktionen 1938–1945 (Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 20), Göttingen 2004, S. 63-85.
  8. Alle Angaben nach: Kingreen, Gewaltsam verschleppt aus Frankfurt, S. 389. Vgl. auch: Institut für Stadtgeschichte der Stadt Frankfurt am Main: Frankfurt am Main 1933–1945: Jüdisches Leben, Judenverfolgung: Deportationen: Deportationen von Juden aus Frankfurt 1941–1945 (tabellarischer Überblick) (Stand: 17.7.2012).
  9. DigAM – digitales archiv marburg / Hessisches Staatsarchiv Marburg: Pogromnacht – Auftakt am 7. November 1938 in Hessen – Online-Version der gleichnamigen Ausstellung im Hessischen Staatsarchiv Marburg, 5.11.2008–15.5.2009, bearbeitet von Reinhard Neebe: 4. IV. Ghettoisierung, Deportationen und der Weg in den Holocaust 1939-1942/45 (abgerufen am 12.3.2013).
  10. DigAM – digitales archiv marburg / Hessisches Staatsarchiv Marburg: Ausstellung „Jedenfalls wird jetzt tabula rasa gemacht ...“ Pogromnacht 1938 und der Weg in den Holocaust. Bearbeitet von Reinhard Neebe (abgerufen am 12.3.2013).
Sachbegriffe
Deportationen
Einträge
  1. Deportation von etwa 1.125 Juden von Frankfurt nach Litzmannstadt (Lodz), 20. Oktober 1941
  2. Deportation von etwa 1052 Juden von Frankfurt nach Minsk, 11.-12. November 1941
  3. Deportation von etwa 992 Juden aus Frankfurt nach Kowno, 22. November 1941
  4. Deportation von 1.034 Juden von Kassel nach Riga, 9. Dezember 1941
  5. Deportation von 53 Juden nach Theresienstadt, 10. Februar 1942
  6. Deportation von 1.000 Juden von Mainz und Darmstadt nach Piaski, 25. März 1942
  7. Deportation von 982 Juden von Frankfurt nach Izbica, 8. Mai 1942
  8. Deportation von 957 Juden von Frankfurt nach Izbica, 24. Mai 1942
  9. Deportation von 508 Juden aus Kassel, Nord- und Mittelhessen nach Sobibór, 1. Juni 1942
  10. Deportation von 1.253 Juden aus Frankfurt und dem Regierungsbezirk Wiesbaden, 11. Juni 1942
  11. Amerikanischer Augenzeuge berichtet über Lage in Deutschland und Judendeportationen in Frankfurt, 24. Juli 1942
  12. Deportation von etwa 1013 Juden von Frankfurt nach Theresienstadt, 18. August 1942
  13. Deportation von 1110 Juden von Frankfurt nach Theresienstadt, 1. September 1942
  14. Letzte Judendeportation aus Marburg, 6. September 1942
  15. Deportation von 755 Juden aus dem Regierungsbezirk Kassel nach Theresienstadt, 7. September 1942
  16. Deportation von etwa 1378 Juden von Frankfurt nach Theresienstadt, 15. September 1942
  17. Deportation von 237 Juden aus Frankfurt nach Raasiku, 24. September 1942
  18. Deportation von 1.288 Juden aus Südhessen über Darmstadt nach Theresienstadt, 27. September 1942
  19. Deportation von 883 Juden von Mainz und Darmstadt nach Treblinka, 30. September 1942
  20. Deportation von elf Juden von Frankfurt nach Theresienstadt, 12. April 1943
  21. Deportation von 17 Juden von Frankfurt nach Auschwitz, 19. April 1943
  22. Einzeldeportation von Frankfurt nach Theresienstadt, 27. April 1943
  23. Deportation von 19 Juden von Frankfurt nach Theresienstadt, 17. Juni 1943
  24. Deportation von 3 Juden von Frankfurt nach Theresienstadt, 9.-10. November 1943
  25. Deportation von Juden aus Frankfurt nach Theresienstadt, 8. Januar - 25. Oktober 1944
  26. Deportation von 11 Juden aus Darmstadt nach Theresienstadt, 10. Januar - 20. September 1944
  27. Deportation von 616 Juden von Frankfurt nach Theresienstadt, 14. Februar 1945
  28. Letzte Deportation von Juden aus Frankfurt, 17. März 1945
  29. Der Internationale Suchdienst zieht nach Arolsen, Januar 1946