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Eklat bei der eröffnenden Pressekonferenz zur documenta IV in Kassel, 26. Juni 1968

Im Magistratssaal des Kasseler Rathauses kommt es bei der eröffnenden Pressekonferenz zur documenta IV zum Eklat, als eine Gruppe von Personen, unter ihnen der Happening- und Fluxus-Pionier Wolf Vostell (1932–1998), der Aktionskünstler und APO-Anhänger Jörg Immendorff (1945–2007; Aktionsprojekt „LIDL“) und der Maler und Grafiker Werner Schreib (1925–1969), die Veranstaltung zur Durchführung einer gezielten Störaktion nutzt. Kostümiert, mit Blindenbinden am Arm, und einem Transparent das die Aufschrift „Prof. Bode! Wir Blinden danken Ihnen für diese schöne Ausstellung“ trägt, beziehen die Skandierer exponierte Positionen im Auditorium. Jörg Immendorff steigt auf einen Tisch und verteilt Flugblätter mit der Aufschrift „Ich mache die documenta frei, Immendorff“. Dabei hält der Künstler einen bemalten Eisbären aus Sperrholz ins Publikum der teilnehmenden Journalisten. Vostell, der die konzeptionelle Ausrichtung der documenta IV als „Vorherrschaft des Tafelbilds“ bezeichnet, weil intermediale Zeugnisse der wesentlichen künstlerischen Strömungen der letzten fünf Jahre nicht in das Ausstellungskonzept mit einbezogen wurden, möchte wissen, mit welchem Recht der zwei Dutzend Mitglieder zählende documenta-Rat den Anspruch erhebe, „die Kunst der Gegenwart zu zeigen, wenn drei so entscheidende Bewegungen wie Fluxus, Happening und Environment fehlen?1

„Honig-Aktion“

Höhepunkt des Spektakels ist eine Art Pseudo-Happening, das als „Honig-Aktion“ in die documenta-Geschichte eingeht: Vostell leert einen mit Pfennigen gefüllten Beutel auf dem Konferenztisch der anwesenden Ratsmitglieder (gemeint, um die Korrumption der documenta-Leitung durch den Kunstmarkt zu symbolisieren oder als milde Pensionsgabe für Arnold Bode), Immendorffs Frau Chris Reinecke (geb. 1936) garniert das Ganze mit dem Inhalt eines Glases besagten Bienensaftes, bestreut anschließend einige bereits geräumte Stühle der Ratsmitglieder mit Zucker und verteilt Küsse an die konsternierten Gastgeber der Veranstaltung. Eine schwarze Katze darf schließlich vom klebrigen Konferenztisch aus tapsender Weise Annäherungsversuche an die Honoratioren probieren und beendet das szenische Geschehen.2

Hatte sich im Vorfeld der vierten documenta öffentliche Kritik zunächst vor allem am deutlichen Übergewicht amerikanischer Künstler entzündet (gut ein Drittel der vom Rat nominierten Werke stammt aus US-amerikanischen Künstlerhänden), so schwenken die Störer nicht zuletzt aufgrund der ausdrücklichen Ablehnung von Vostells Vorschlag, die Ausstellung verstärkt multimedial zu konzipieren, auf Protest ein. Bei der offiziellen Eröffnungsfeier am darauffolgenden Donnerstag setzen die Aktionskünstler ihre Proteste fort.

Die von Vostell, Immendorff und anderen ins Leben gerufenen Gegeninitiative zur documenta IV, die auch die Veranstaltung einer „Gegendocumenta“ in der Kasseler Stadthalle ankündigte, wird zu einem Ausgangspunkt für die 1968 von Friedrich Wolfram Heubach (geb. 1944) gemeinsam mit Wolf Vostell erstmals herausgegebene Künstlerzeitschrift „interfunktionen“, die in zwölf Ausgaben bis 1975 erscheint und in ihrem ersten Heft die „Honig-Aktion“ der documenta-Kritiker in Wort und Bild ausführlich dokumentiert.
(KU)


  1. Zitiert nach Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.11.2007, S. 48.
  2. Zitiert nach ebd.
Belege
Weiterführende Informationen
Empfohlene Zitierweise
„Eklat bei der eröffnenden Pressekonferenz zur documenta IV in Kassel, 26. Juni 1968“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/4444> (Stand: 14.1.2022)
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