Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Zeitgeschichte in Hessen - Daten · Fakten · Hintergründe

Eröffnung der documenta III in Kassel, 27. Juni 1964

In Kassel wird die documenta III eröffnet, die bis zum 6. Oktober zum dritten Mal nach 1955 und 1959 dem Publikum einen Querschnitt durch die internationale Gegenwartskunst des 20. Jahrhunderts bieten will. Die Eröffnungsfeier ist – nach Grußworten des Kasseler Oberbürgermeisters Dr. Karl Branner (1910–1997; SPD) und des hessischen Ministerpräsidenten Georg August Zinn (1901–1976; SPD) – wesentlich durch zwei Festreden geprägt, die vom ehemaligen Berliner Senator für Wissenschaft und Kunst Adolf Arndt (1904–1974) und dem Kunsthistoriker und künstlerischen Leiter der documenta, Werner Haftmann (1912–1999), gehalten werden.1

Organisation

Die documenta III steht in diesem Jahr erneut unter federführender Leitung des Teams Arnold Bode (1900–1977) / Werner Haftmann, die bereits für die Organisation und künstlerische Leitung der ersten beiden Ausgaben der Ausstellung verantwortlich zeichneten. Räumlich greift die documenta in nochmals erweitertem Rahmen aus, indem mit der (wiederum von Arnold Bode als Ausstellungsort provisorisch-kongenial hergerichteten) „Alten Galerie“ an der Schönen Aussicht die nunmehr dritte „Kriegsruine“ nach Fridericianum und Orangerie einbezogen wird. Der von Arnold Bode gewünschte Vierjahres-Rhythmus der documenta („Quadriennale“) konnte aufgrund interner Kompetenz-Streitigkeiten der Veranstaltungsgesellschaft documenta GmbH (in der seit 1. Januar 1963 neben der Stadt Kassel als ehemaligem Mehrheitsanteilseigner nun auch das Land Hessen vertreten ist), aber auch wegen des von Bode geäußerten Wunsches, die documenta künftig teilweise im Schloss Wilhelmshöhe einzuquartieren, nicht wie beabsichtigt eingehalten werden, sodass die documenta III gewissermaßen mit einjähriger „Verspätung“ stattfindet.

Retrospektives Gesamtkonzept

Werner Haftmann, der den als paradigmatisch begriffenen Stellenwert abstrakter Werke einer älteren Künstlergeneration nach 1955 und 1959 erneut als wichtigsten Orientierungspunkt der Gegenwartskunst inszeniert, kann sich in die sich in Bezug auf die künstlerische Konzeption der documenta III auf breiter Front durchsetzen. Das von Haftmann errichtete Forum für die „Klassiker“ der Moderne knüpft im Prinzip an die inhaltlichen Positionen der ersten („die Moderne in der ersten Jahrhunderthälfte“) und zweiten („zeitgenössische Kunst nach 1945“) documenta an. Die Auswahl einer in 26 sogenannten Meisterkabinetten präsentierten, monumental anmutenden Schau von Werkgruppen renommierter Künstlerikonen wie Beckmann, Picasso, Kandinsky, Klee, Matisse und anderen, untermauert erneut den von Haftmann nachhaltig plädierten Ausschließlichkeitsanspruch der abstrakten Kunst im 20. Jahrhundert. Im Vordergrund der Ausstellung steht das Leitbild des „großen“ (etablierten) Künstlers und seines „bedeutenden“ Werks.2 Den jüngsten Entwicklungen der Kunstszene und ihren Protagonisten wird nur ein nachgeordneter Stellenwert eingeräumt, wobei Haftmann die unter dem Etikett „Aspekte 64“ präsentierten Werke als Ausblick auf neuere Strömungen wie Kinetische Kunst, Op-Art sowie erste Anfänge der Pop Art allerdings mehr duldend als aus Überzeugung in die Kasseler Kunstschau aufnimmt. Vor allem in Hinblick auf die nur in wenigen Werken vertretene und wenig repräsentative Auswahl an Pop Art bleibt die documenta III eklatant hinter der tatsächlichen Bedeutung, den diese Strömung für den aktuellen Kunstbetrieb besitzt, zurück. Bode geht tatsächlich noch einen Schritt weiter, „spricht ihr pauschal den Kunstcharakter ab und empfiehlt ihr, auf die Straße zurück zu kehren, von wo sie gekommen sei.“3

Eine außerordentlich verdienstvolle Leistung Werner Haftmanns, die gleichermaßen beim Publikum wie bei der Kritik großen Anklang findet, ist die Abteilung Handzeichnungen, die in vorher so noch nie gesehener Breite 500 Grafiken aus acht Jahrzehnten präsentiert, darunter Meisterwerke von van Gogh, Cézanne, Picasso, Miro u. v. a.4 Die von den Machern als „Fundament“ der Ausstellung apostrophierte Sammlung, die einen Bogen zeichnerischen Schaffens vom Proto-Surrealismus Rodolphe Bresdins (der 1822 geborene französische Grafiker ist auch unter seinem Künstlernamen Chien-Caillou bekannt) bis zur rätselhaft-allegorischen Prä-Pop Art des Amerikaners Ronald B. Kitaj (1932–2007) schlägt, wird nach Ausstellungsende den beständigsten Nachhall aller im Rahmen der documenta III gezeigten Sektionen finden. Sie unterstreicht aber auch den ausgeprägt retrospektiven Charakter des von Haftmann und Bode erdachten Gesamtkonzeptes, das große Teile der Ausstellung überholt und zu wenig gegenwarts- und zukunftsbezogen erscheinen lässt.

Breite Anerkennung erfährt auch Bodes innovatives Konzept von „Bild und Skulptur im Raum“, das radikal mit der traditionellen Ausstellungsaufteilung „Plastik in die Museumsecke – Gemälde an die Museumswand“ bricht, und seiner Vorstellung eines idealisierten „Museums neuen Typs“ Ausdruck verleiht. Die Suche nach einer universell gültigen Ausstellungskultur für die gegenwärtig bedeutendsten Werke der zeitgenössischen Kunst führt auch zu dem fortan die documenta programmatisch begleitenden Schlagwort eines „Museums der 100 Tage“, das 1964 erstmalig Erwähnung findet (Arnold Bode im Vorwort zum Band 1 des offiziellen Ausstellungskataloges).
(KU)


  1. Die Festansprachen von Arndt und Haftmann sind teilweise bzw. vollständig abgedruckt in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.7.1964, S. 13 f.
  2. Vgl. Werner Haftmanns Statement zur Konzeption der documenta III im Vorwort des offiziellen Ausstellungskatalogs Documenta III [Internationale Ausstellung, 27. Juni – 5. Oktober, Kassel, Alte Galerie, Museum Fridericianum, Orangerie], 1. Malerei und Skulptur, Kassel 1964, S. XIV: „dokumenta III hat einen anderen Ansatz. Sie läßt sich nicht mehr auf Argument und Gruppe ein. Ihr liegt der einfache Leitsatz zugrunde, daß Kunst das ist, was bedeutende Künstler machen (Augustinus). Sie setzt auf die einzelne Persönlichkeit. Ihr kommt es auf die Reihung von Schwerpunkten an, die Verbindung zueinander aufnehmen. […] Eine bestimmte Konstellation tritt hervor, in der jede einzelne Individualität ihren eigenen unverwechselbaren Rang hat und doch am größeren Ganzen mitwirkt.“
  3. Harald Kimpel, documenta – die nachrückende Avantgarde, in: Johannes Kirschenmann/Florian Matzner (Hrsg.), documenta Kassel. Skulptur Münster, Biennale Venedig, München 2007, S. 9-43, hier S. 20.
  4. Die in dieser Abteilung gezeigte Werkschau ist ursprünglich Gegenstand des unter dem Titel Zeichnungen des 20. Jahrhunderts vorbereiteten dritten Bandes von Haftmanns Malerei im 20. Jahrhundert gewesen, der allerdings nie publiziert wurde.
Belege
Weiterführende Informationen
Empfohlene Zitierweise
„Eröffnung der documenta III in Kassel, 27. Juni 1964“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/1191> (Stand: 27.6.2023)
Ereignisse im Mai 1964 | Juni 1964 | Juli 1964
Mo.Di.Mi.Do.Fr.Sa.So.Mo.Di.Mi.Do.Fr.Sa.So.Mo.Di.Mi.Do.Fr.Sa.So.Mo.Di.Mi.Do.Fr.Sa.So.Mo.Di.
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30