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Die Frankfurter Allgemeine Zeitung kommentiert den Rücktritt Georg August Zinns, 29. August 1969

Unter dem Titel „Ohne Zinn“ kommentiert die Frankfurter Allgemeine Zeitung den Rücktritt des langjährigen Ministerpräsidenten Georg August Zinn (1901–1976; SPD) und bietet eine erste Bewertung seiner politischen Leistung und seiner Amtszeit:
Georg August Zinns Rücktritt vom Amt des hessischen Ministerpräsidenten beendet endgültig die Epoche der Nachkriegszeit in den deutschen Ländern. Mit ihm verläßt der letzte jener Männer der ersten Stunde, die aus Trümmern von 1945 ein neues, demokratisches Deutschland aufbauten, den politischen Kommandostand. Neunzehn Jahre war Zinn, der seit 1945 Justizminister des Landes war, Regierungschef in Hessen, dem von der Besatzungsmacht geschaffenen Gebilde, das unter seiner Führung zu einem modernen, leistungsfähigen und auf manchen Gebieten vorbildlichen Bundesland wurde. Der Abschied des Achtundsechzigjährigen kommt überraschend. Er ist wohl weniger auf das Drängen der Parteifreunde als auf die Erkenntnis Zinns zurückzuführen, daß die bevorstehende Regierungsumbildung und die im nächsten Jahr anstehende Landtagswahl seine Genesung beeinträchtigen würden.

In Hessen ist Zinn der bekannteste, wohl auch der beliebteste Politiker; seine Partei, die SPD, hat das in manchen Wahlen erfahren. Obwohl sie manche sozialistische Forderung auf ihre Fahne und in die hessische Verfassung geschrieben hatte, ließ sie Zinn doch gewähren, als er lange vor dem Godesberger Parteitag Abschied von Karl Marx und seinen Dogmen nahm, weil sie vor der Wirklichkeit nicht bestehen konnten. Mit Reformpolitik hatte der Realpolitiker Zinn Erfolg, und den brauchten die Sozialdemokraten, die im Bund siebzehn Jahre nur als Opposition mitreden konnten. Georg August Zinn aber regierte wie Hinrich Wilhelm Kopf in Niedersachsen, Max Brauer in Hamburg und Wilhelm Kaisen in Bremen. Diese Männer bauten Modelle sozialdemokratischer Politik und machten es mit ihrer Eigenwilligkeit ihrer Parteiführung in Bonn nicht immer leicht.

Zinn war als Landesfürst gefürchtet in Bonn. Er selbst sieht sich als Hüter des Föderalismus. Wenn es um die Souveränität seines oder eines anderen Bundeslandes geht, dann kann der sonst, so umgängliche Mann unerbittlich werden. Er, dessen Steckenpferd das Verfassungsrecht ist, hat mehrfach das Bundesverfassungsgericht angerufen, wenn er die Länderhoheit durch Gesetzesvorhaben des Bundes gefährdet sah. Noch fällt es schwer, sich Hessen ohne den weitblickenden Mann vorzustellen, der seinen Landsleuten die das Heimatgefühl fördernden Hessentage schenkte, aber auch den Großen Hessenplan, eine Vorausschau auf zehn Jahre – ein Schritt in die Zukunft.
(OV)

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„Die Frankfurter Allgemeine Zeitung kommentiert den Rücktritt Georg August Zinns, 29. August 1969“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/en/subjects/idrec/sn/edb/id/4357> (Stand: 27.11.2022)
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