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Marburger Hochschullehrer beschließen Manifest gegen studentische Mitbestimmung an den hessischen Universitäten, 17. April 1968

35 Hochschullehrer der Philipps-Universität in Marburg wenden sich im sogenannten Marburger Manifest gegen die Übertragung des parlamentarischen Proporzsystems (Verhältniswahlrecht unter Einbeziehung studentischer Vertreter) auf die Universitäten.

Das Manifest als dezidierte Meinung gegen den „gefährlichen Weg vermeintlicher Demokratisierung“

Mit der Abfassung des „Marburger Manifests“ formiert sich „zum ersten mal eine Front akademischer Gegner der studentischen Mitbestimmung. Ursache dafür ist die erklärte Absicht einiger Landesregierungen, das alte Emanzipations-Begehren der Studenten nicht länger zu ignorieren.“1 Die Einführung des Verhältniswahlrechts in die universitären Organisationsstrukturen ließe nach Ansicht seiner Verfasser befürchten, dass „diese in ein Konglomerat von Interessenverbänden zerfallen“, „daß die über Forschung und Lehre entscheidenden Gruppen sich zum großen Teil aus Personen zusammensetzen, die sich erst anschicken, Wissenschaft zu erlernen“, und dass „über den Studiengang junge Menschen mitbestimmen sollen, die diesen selbst noch gar nicht durchlaufen haben.“2 Insbesondere richtet sich die Erklärung auch gegen die geforderte Drittelparität, die eine studentische Entscheidungsbeteiligung in allen wichtigen Universitätsgremien mit einem Stimmrechtsanteil von 33 Prozent festschreiben würde. Dies widerspreche „dem Grundsatz, daß parlamentarische Verfahrensweise in einer freiheitlich demokratischen Staatsordnung in erster Linie auf die Gesetzgebung und keineswegs auf sämtliche Lebensbereiche des Staates bezogen sind.“ „Studentische Wortführer“ seien „nicht legitimiert, in der Kulturpolitik parlamentarische Volksvertreter zu ersetzen.“ (zitiert nach Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.6.1968, S. 6)

Abschließend wenden sich die Verfasser des Manifests entschieden gegen ein gleichberechtigtes „Mitbestimmungsrecht der noch Lernenden in Fragen der Forschung und Lehre“. Vielmehr befürworte man „eine Reform, die allen Mitgliedern der Universität, also neben den Ordinarien auch, den Nichtordinarien, den akademischen Mitarbeitern und den Studenten in stärkerem Maße als bisher eine gemäß ihrer wissenschaftlichen Qualifikation und ihrer Erfahrung abgestufte Mitwirkung, am Leben der Hochschule garantiert.“ (zitiert nach Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.6.1968, S. 6) Das „Marburger Manifest“ wendet sich damit direkt gegen Bestimmungen des am 11. Mai 1966 vom Hessischen Landtag verabschiedeten Hessischen Hochschulgesetzes, die unter anderem eine Beteiligung der Studierendenschaft an der Wahl des Hochschulrektors vorsieht.

Zum prominentester universitätsinterne Gegner des Manifestes avanciert der Politologe Wolfgang Abendroth (1906–1985).3

Der hochschulpolitische Hintergrund

Ausgangspunkt für den Reformprozess der hessischen Hochschulen, der als „Demokratisierung“ spätestens 1968 vor allem das Mitbestimmungsrecht der Studierenden in den Vordergrund stellte, ist zu Beginn der 1960er Jahre zunächst die materielle Erweiterung der deutschen Hochschullandschaft (Einrichtung von Fachhochschulen), die vom Wissenschaftsrat empfohlen worden war (vgl. Wissenschaftsrat: Empfehlungen zum Ausbau der wissenschaftlichen Einrichtungen. Teil I), und zu deren Verwirklichung die Kultusminister der Länder gemeinsame Absprachen trafen. Der vom Wissenschaftsrat empfohlene quantitative Ausbau sollte damals allerdings nicht von einer qualitativen Veränderung der Organisation und Ausgestaltung von Forschung, Lehre und Verwaltung begleitet werden. Vielmehr bestärkten die Ausführungen des Wissenschaftsrats vorerst die traditionelle Form der Ordinarienuniversität, der Lehrstuhl sollte in seiner traditionellen Form „die Basiseinheit und Keimzelle der wissenschaftlichen Hochschule“ (Olaf Bartz, Expansion und Umbau, S. 155) bleiben.

Das weitere koordinierte Vorgehen der Kultusminister entsprach dieser zurückhaltenden Einstellung, und griff zu Beginn des Jahrzehnts nur spezifische Ansätze zur Veränderung, wie zum Beispiel den überfälligen Anpassungs- und Modernisierungsbedarf in Fragen der Hochschullehrerbesoldung, der Pauschalierung von Lehrvergütungen und des Berufungswesen auf.

Vor dem Hintergrund der 1967/68 ihrem Höhepunkt entgegenstrebenden Mobilisierung der deutschen Studentenbewegung verlagern sich die Bemühungen der Kultusminister allerdings in Richtung einer grundlegenderen strukturellen Reform der Hochschulen. Die dahingehenden Beratungen münden schließlich in den „Grundsätzen für ein modernes Hochschulrecht und für eine strukturelle Neuordnung des Hochschulwesens“, die am 10. April 1968 beschlossen wurden.

Der Prozess der eigentlichen Abkehr von der Ordinarienuniversität ist allerdings bereits etwas früher in Gang gesetzt worden: der „Flickenteppich“ historisch gewachsener Bestimmungen, die den Betrieb (oder die Einrichtung) einer Hochschule ordneten, aber nur zum Teil Gesetzesrang besaßen, wich ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre Bestrebungen zur Schaffung einer Regulierung auf der Grundlage von landesspezifisch einheitlichen gesetzlichen Vorgaben im Hochschulrecht. Hessen bekleidet hierin eine Vorreiterrolle, denn es war das erste Bundesland, das 1966 ein allgemeines Hochschulgesetz verabschiedete.4

1968 verabschiedet schließlich die Kultusministerkonferenz (KMK) mit ihren „Grundsätzen für ein modernes Hochschulrecht“ einen weitreichenden Konsens der Länder über die zukünftige Zielrichtung für die rechtliche Ausgestaltung eines modernen Hochschulgesetzwesens, und schafft damit den entscheidenden Einschnitt in die nach wie vor überwiegend traditionell ausgerichtet Organisationsstruktur der Universitäten.

Zum entscheidenden Stein des Anstoßes für die im „Marburger Manifest“ zum Ausdruck kommende Reformschelte eines bedeutenden Teils der deutschen Hochschullehrerschaft wird schließlich aber die Forderung nach einer „funktionsgerechte[n] Mitsprache der an Forschung und Lehre beteiligten Gruppen einschließlich der Studenten“, was als paritätisches Mitbestimmungsrecht unter dem Schlagwort „Demokratisierung“ zum Kampfbegriff avanciert.

Zum Reformbedarf konstatiert die KMK ferner allgemein die Notwendigkeit, die Hochschulen aufgrund steigender Absolventenzahlen an den weiterführenden Schulen in „Struktur und Kapazität“ dieser Entwicklung anzupassen. Zentrale Bedeutung besitzt in diesem Zusammenhang die fundamentale Erweiterung der „Entscheidungskompetenz der staatlichen Hochschulverwaltung und der zentralen Verwaltung in der Hochschule“ – weitreichende Entscheidungskompetenzen gehen damit auf den staatlich dirigierten Verwaltungsapparat über, die Autonomie der akademischen Selbstverwaltung wird deutlich verringert. Weiterhin beschließt die KMK, dass die bisher jährlich wechselnden Rektorate durch Schaffung von Präsidialverfassungen oder eine Verlängerung der Amtszeit der Rektorate zu einer kontinuierlicheren Leitung umgewandelt werden. Als Basiseinheit der Hochschulen und damit als Empfänger der Mittelzuweisung fungieren künftig nicht länger die Lehrstühle (Ordinarien), sondern die Fachbereiche. Darüber hinaus besteht die Pflicht zur öffentlichen Ausschreibung vakanter Lehrstühle. Die vollständig eigenmächtige Entscheidung der Berufungskommissionen wird durch ein öffentliches Bewerbungsverfahren ersetzt.
(KU)


  1. DER SPIEGEL 30/1968, S. 29.
  2. Zitiert nach Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.6.1968, S. 6.
  3. Vgl. DER SPIEGEL 30/1968, 22.7.1968
  4. Olaf Bartz, Expansion und Umbau, S. 158 f.
Records
Additional Information
Recommended Citation
„Marburger Hochschullehrer beschließen Manifest gegen studentische Mitbestimmung an den hessischen Universitäten, 17. April 1968“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/en/subjects/idrec/sn/edb/id/4382> (Stand: 17.4.2023)
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