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Proteste gegen Fassbinder-Stück am Frankfurter Schauspielhaus, 31. Oktober 1985

Die Uraufführung des von Rainer Werner Fassbinder (1945–1982) verfassten Theaterstücks „Der Müll, die Stadt und der Tod“ im Kammerspiel des Schauspielhauses in Frankfurt am Main wird durch eine von der Jüdischen Gemeinde initiierten Bühnenbesetzung verhindert.

Etwa eine Stunde vor dem geplanten Aufführungsbeginn finden sich einige hundert Demonstranten vor dem Eingang des Kammerspiels an der Ecke Hofstraße und Neue Mainzer Straße ein, um lautstark gegen „die Aufführung eines antisemitischen Stückes auf den Städtischen Bühnen“ zu protestieren.1 Mitglieder des Jüdischen Jugend- und Studentenverband Hessen e. V. (JJSH) skandieren gemeinsam mit den Schirmherrinnen der Frankfurter Gruppe der Women’s International Zionist Organisation (WIZO), den Stadtverordneten Frolinde Balser (1924–2012; SPD) und Erika Steinbach-Hermann (geb. 1943; CDU), sowie der FDP-Kreisvorsitzenden Edith Strumpf (geb. 1938) über Megafon Parolen wie: „Wehret den Anfängen!“, „Mehr Achtung vor Minderheiten!“ und „Keine Subventionen für Manipulationen!“ Frolinde Balser fordert die Anwesenden jedoch nachdrücklich zu einer friedlichen Kundgebung auf, die Besucher der angekündigten Aufführung können unbehelligt passieren. Als sich auf der Bühne der Vorhang öffnet, betreten jedoch mehr als zwei Dutzend Personen aus dem Zuschauerraum die Bühne, und entfalten ein Plakat mit der Aufschrift „Subventionierter Antisemitismus“. Sie erklären die Bühne für besetzt. Ziel der Aktion sei es, die Aufführung eines Stückes zu verhindern, „das eine Beleidigung und Diffamierung aller jüdischen Bürger der Stadt sei“.2

Den Aufrufen zum Protest gegen die Aufführung des Stückes sind zahlreiche bedeutende Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Leben der Stadt Frankfurt am Main gefolgt, darunter Stadträte und Stadtverordnete, Geschäftsleute und Gewerkschafter, Rechtsanwälte und Richter, Schauspieler und Publizisten. Am Rande werden drei junge Männer von Zivilfahndern der Polizei als Neonazis erkannt. Die ungebetenen Zaungäste ziehen sich jedoch nach ihrer Entdeckung schnell in Richtung Innenstadt zurück.

Das Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ beruht auf Motiven des 1973 erschienenen Romans Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond des deutschen Schriftstellers Gerhard Zwerenz (1925–2015), der darin den jüdischen Immobilienspekulanten Abraham Mauerstamm als skrupellosen „Baulöwen“ auftreten lässt. Den Hintergrund des Plots bilden die Auseinandersetzungen um Grundstücksspekulationen im Frankfurter Westend zu Beginn der 1970er Jahre, in deren Verlauf es zu den ersten Hausbesetzungen in der Geschichte der Bundesrepublik und gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen linksgerichteten Aktivisten und der Polizei kam. Zahlreiche Charaktere der Handlung spiegeln prominente Personen aus der Polit- und Kulturszene Frankfurts; so glauben viele Rezipienten von Zwerenz’ Roman und des Fassbender-Stücks, in der Figur des Spekulanten Mauerstamm (der bei Fassbinder nur als „reicher Jude“ auftritt) den Investor und späteren Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland Ignatz Bubis zu erkennen.3 Die prominente und negativ besetzte Rolle Mauerstamms trägt sowohl Zwerenz als auch Fassbinder den Vorwurf antisemitischer Tendenzen („Linksfaschismus“) ein.

Der Schweizer Film- und Theaterregisseur Daniel Schmid (1941–2006) verfilmt das Stück 1976 unter dem Titel „Schatten der Engel“. Das unter anderem mit Fassbinder selbst, seiner Ex-Frau Ingrid Caven (geb. 1938) und Klaus Löwitsch (1936–2002) besetzte Werk steht bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes 1976 im Wettbewerb um die Goldene Palme.
(KU)


  1. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.11.1985, S. 41.
  2. Sabine Hock, Der Kulturdezernent schickte alle nach Hause: Der Frankfurter Theaterskandal um Fassbinders Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ vor 25 Jahren [Elektron. Ressource] (eingesehen am 19.10.2012).
  3. Ignatz Bubis befindet sich (unter anderem zusammen mit Michel Friedman) am Abend der geplanten Uraufführung von „Der Müll, die Stadt und der Tod“ unter den „Bühnenbesetzern“.
Records
Additional Information
Hebis-Klassifikation
8031 ,Inszenierung
Hebis-Schlagwort
Frankfurt ; Frankfurt / Inszenierungen ; Fassbinder, Rainer Werner <Muell, Stadt, Tod> ; Antisemitismus
Recommended Citation
„Proteste gegen Fassbinder-Stück am Frankfurter Schauspielhaus, 31. Oktober 1985“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/en/subjects/idrec/sn/edb/id/1512> (Stand: 31.10.2022)
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