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Die Stadt Frankfurt gibt die Nominierung des Psychoanalytikers Sigmund Freud für den Goethepreis bekannt, 6. August 1930

Sigmund Freud (1856–1939), der aus Österreich stammende führende Theoretiker der von ihm begründeten psychologischen Theorie der Psychoanalyse erhält den Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main. Der in Freiberg in Mähren (heute Příbor/Tschechien) geborene Freud erhält die seit 1927 verliehene Auszeichnung (vorhergehende Preisträger waren 1927 im Stiftungsjahr des mit 10.000 RM dotierten Preises der Lyriker Stefan George, 1928 der Arzt und Philosoph Albert Schweitzer und der Philosoph 1929 Leopold Ziegler) vor allem für die besonderen sprachlichen Qualitäten seiner Werke. Alfred Döblin (1878–1957), einer der dem österreichischen Tiefenpsychologen gegenüber aufgeschlossenen Preiskuratoren, unterstreicht Freuds Fähigkeit, den der menschlichen Seele innewohnenden „Lemuren Gestalten und Namen zu geben“. „Dieses Namengeben scheint mir, hat die Menschheit, die Sprache bereichert“, so Döblin, der selbst als Nervenarzt und Schriftsteller tätig ist.1 Stellvertretend für den an Krebs erkrankten nimmt seine Tochter Anna Freud (1895–1982) die Auszeichnung am 28. August 1930 im Frankfurter Goethe-Haus entgegen.

Die Verleihung des Preises an Freud ist im Kuratorium höchst umstritten

Die Ehrung des 74-jährigen ist indes nicht unumstritten. Der Entscheidung des Kuratoriums gingen vehemente Auseinandersetzungen um die Preiswürdigkeit Freuds voraus. Einzelne Kuratoriumsmitglieder sprachen gar von einer „nationalen Blamage“ und dem „Gelächter, das Deutschland und Frankfurt mit der Entscheidung im Ausland auf sich ziehen werde“.2 So sprach sich beispielsweise der Kurator der Frankfurter Goethe-Universität, Kurt Riezler (1882–1955), ausdrücklich gegen Freud aus, weil er in dessen „Zentrierung des Menschen vom peinlich Krankhaften her“ etwas „prägnant Un-Goethisches“ erblickt. Freud stehe damit in einem „penetrante[n] Gegensatz“ zu allem, „was der Name Goethe bedeutet“.3 Auch der Vertreter der Goethe-Gesellschaft, Julius Petersen (1878–1941), der Direktor des Weimarer Goethe-Museums Hans Wahl (1885–1949); und der Vertreter des Freien Deutschen Hochstifts Ernst Beutler (1885–1960) votieren gegen Freud; Petersen und Wahl blieben der Feier am 28. August zur Verleihung des Preises aus Protest fern. Mit knappen sieben zu fünf Stimmen fällt dennoch die Entscheidung auf den Begründer der Psychoanalyse und Verfasser von international renommierten Standardwerken wie Jenseits des Lustprinzips (1920), Das Ich und das Es (1923) und Das Unbehagen in der Kultur (1930).

Die Wahl Sigmund Freuds gilt als die kulturpolitisch bedeutendste Entscheidung in der Frühphase der Verleihung des Goethepreises der Stadt Frankfurt. Besonders Alfred Döblin und dem Kuratoriumssekretär Alfons Paquet (1881–1944) (der anfänglich eine gänzlich andere Meinung vertreten hatte, sich aber zu einer neubewertung des Freud’schen Werkes entschließen konnte) setzten die Nominierung gegen die hauptsächlich von den im Kuratorium vertretenen Germanisten und Goetheforscher formulierten Einwände durch. Es ist die erste öffentliche Ehrung, die Sigmund Freud in Deutschland erfährt.
(KU)


  1. Zitiert nach Tomas Plänkers, „Vom Himmel durch die Welt zur Hölle“. Zur Goethe-Preisverleihung an Sigmund Freud im Jahre 1930, in: Jahrbuch der Psychoanalyse: Beiträge zur Theorie, Praxis und Geschichte 30 (1993), S. 167-181, hier: S. 169.
  2. Vgl. Alfons Paquet: Lebensstationen: Goethepreis (eingesehen am 6.8.2012).
  3. Plänkers (wie Anm. 1), S. 171).
Belege
Weiterführende Informationen
Hebis-Klassifikation
732250, Kulturpreis
Hebis-Schlagwort
Goethe-Preis der Stadt Frankfurt; Freud, Sigmund; Geistesgeschichte 1920-1933; Frankfurt / Goethepreis
Empfohlene Zitierweise
„Die Stadt Frankfurt gibt die Nominierung des Psychoanalytikers Sigmund Freud für den Goethepreis bekannt, 6. August 1930“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/2048> (Stand: 6.8.2022)
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