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Frauen stürmen wegen schlechter Versorgungslage das Hanauer Rathaus, 3. Mai 1916

In einem Schreiben des Hanauer Oberbürgermeisters Karl Hild (1873–1938) an den Kasseler Regierungspräsidenten berichtet dieser von einem Vorfall vom 3. März 1916. Laut Bericht finden sich am Vormittag etwa hundert Frauen unter der Führung der beiden Stadtverordneten Dr. Georg Wagner (1867–1935; USPD) und Fritz Schnellbacher (1884–1947; USPD) vor dem Rathaus ein, um Beschwerden über die Ernährungslage in der Stadt zu äußern. Nachdem Wagner und Schnellbacher dem Bürgermeister über die Anliegen informiert haben, werden drei Frauen als Delegierte zum Gespräch mit dem Bürgermeister in das Rathaus gelassen. Hild berichtet weiter: „Eine dieser Frauen erklärte nun kurz, daß sie mit der ausgegebenen Fettmenge nicht auskommen könnten, und daß es auch zu teuer wäre. Sie könnten nicht mehr bestehen, da auch die übrigen Lebensmittel nicht mehr ausreichend vorhanden wären. Fleisch bekämen sie überhaupt nicht mehr. Wenn sie in die Läden kämen, wäre nichts mehr da. [...] Herr Schnellbacher äußerte sich dahin, daß der Zustand auf keinen Fall so weiter so fortgehen könne, sonst müßten die Leute verhungern. Er wies noch darauf hin, daß beim Verkauf verschiedener Lebensmittel. z. B. Fleisch, die bessere Kundschaft bevorzugt würde, ebenso Öl. (...) Weiter führte Herr Schnellbacher aus, daß die Frauen der Arbeiterbevölkerung in Folge der hohen Preise des Fettes ihre Marken nicht ausnutzen können, und daß diese nicht ausgenutzten Fettmarken dann in die Hände der Reichen durch die Dienstmädchen und auf anderem Wege gelangten, die dann auch für diese Marken sich noch Fett kauften. Eine andere Frau erklärte, daß sie mit den 600 gr Fett – für 4 Personen – nicht auskommen könne. Das Fett sei jetzt alle und sie müsse ihrem Manne schon jetzt trockenes Brot und Kartoffeln mit zur Pulverfabrik geben. Weiterhin stellte dann die Frau, die zuerst gesprochen hatte die Forderung: Entweder mehr Lebensmittel herbeizuschaffen oder die Regierung zum Friedensschluß zu veranlassen.

Daraufhin entwickelt sich eine hitzige Diskussion, bis die Frauen in Begleitung der Stadtverordneten das Rathaus verlassen. Karl Hild erläutert weiter: „Es war den Frauen vorher mitgeteilt, daß die Notstandskommission bereits vorgeschlagen hätte, alles Fleisch nur gegen Marken verkaufen zu lassen, worauf allerdings entgegnet wurde, daß ihnen die Marken nichts nützten, wenn sie kein Fleisch bekämen. [...] Beim Eintritt des Herr Dr. Wagner und nach seinem Vorbringen, daß er uns die Frauen zuführen wolle, habe ich – dem Sinne nach – dem Dr. Wagner gesagt, daß ich ein derartiges Vorgehen von ihm nicht erwartet hätte. Es hätte doch genügt, wenn er mit einigen Frauen gekommen wäre, anstatt einen solchen Aufzug zu veranstalten. Im Übrigen ist den Frauen dann noch gesagt, daß ihre Wünsche vorgetragen würden. Die Frauen entfernten sich schließlich unter der Führung der beiden Herren aus dem Rathaus nach dem Markt.1

Dem Bericht liegen außerdem zwei anonyme Drohbriefe bei, die den Oberbürgermeister beschimpfen, bedrohen und ihn für die desolate Versorgungslage verantwortlich machen.2
(NT)


  1. Hanauer Rathaussturm 3. Mai 1916, Bürgermeister Hild an den Regierungs-Präsidenten in Cassel, mit anonymen Drohbriefen, in: Stimmungsberichte Bd. 1, 1915-16, Nr. 1213, Bd. 1, Bl. 60-63.
  2. Hanauer Rathaussturm 3. Mai 1916, Bürgermeister Hild an den Regierungs-Präsidenten in Cassel, mit anonymen Drohbriefen, in: Stimmungsberichte Bd. 1, 1915-16, Nr. 1213, Bd. 1, Bl. 60-63.
Belege
Weiterführende Informationen
Empfohlene Zitierweise
„Frauen stürmen wegen schlechter Versorgungslage das Hanauer Rathaus, 3. Mai 1916“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/5578> (Stand: 9.12.2022)
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