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Erlass zur „Bekämpfung des Zigeunerunwesens“, 17. Februar 1906

Das Innenministeriums des Königreichs Preußen veröffentlicht eine Ministerialanweisung zu „Bekämpfung des Zigeunerunwesens“1, die auch in Hessen wesentlich zur strukturellen Diskriminierung und Verfolgung von Sinti und Roma beiträgt. Die Anweisung wiederholt und fasst die bis zu diesem Zeitpunkt erlassenen Vorschriften gegen Sinti und Roma noch einmal – nicht zuletzt auch für Polizeibeamte – zusammen. Sie beinhaltet Maßnahmen gegenüber „Ausländischen Zigeunern“ und „inländischen Zigeunern“:

A. Ausländische Zigeuner

1. Ausländischen Zigeunern ist der Übertritt über die Reichsgrenze mit allen gesetzlich zulässigen Zwangsmitteln zu verwehren. Als ausländische Zigeuner sind alle Zigeuner anzusehen, welche nicht völlig zweifelsfrei nachweisen, daß sie die Staatsangehörigkeit in einem deutschen Bundesstaate besitzen. [...]

2. Gleichwohl im diesseitigen Staatsgebiet betroffene ausländische Zigeuner sind festzunehmen und auszuweisen. Auch die Ortspolizeibehörden sind hierzu befugt.

(...)

B. Inländische Zigeuner

6. Bei inländischen, d.h. solchen Zigeunern, welche nachweisbar die Staatsangehörigkeit in einem deutschen Bundesstaate besitzen, ist anzustreben, daß sie möglichst an einem bestimmten Wohnorte seßhaft werden und nicht im Umherziehen der Bevölkerung zur Last fallen. Um dem Umherziehen der Zigeuner entgegenzuwirken, können folgende Maßnahmen in Betracht kommen:

I. Vorbeugende Maßnahmen

a) Bei der Ausstellung von Ausweispapieren ist mit besonderer Vorsicht zu verfahren.

b) Für verwahrloste Zigeunerkinder ist Fürsorgeerziehung zu beantragen.

II. Unterdrückende Maßnahmen

c) Gegen alle Straftaten umherziehender Zigeuner ist mit besonderem Nachdruck einzuschreiten.

d) Während des Umherziehens sind die Zigeunerbanden dauern polizeilich zu beobachten.

(...)

7. Ausweispapiere sind nur auszustellen, wenn über die Persönlichkeit des Antragstellers und seine deutsche Reichsangehörigkeit keinerlei Zweifel besteht. Pässe sind stets nur auf ein Jahr auszufertigen.

(...)

8. Führungszeugnisse sind Zigeunern bei vorübergehendem Aufenthalte nicht auszustellen, auch sind ihnen Bescheinigungen über ein vorübergehendes Arbeitsverhältnis von den Gemeindebehörden nicht zu erteilen.2

Im Anschluss werden in dem 19 Seiten umfassenden Erlass die „Anweisungen zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ ausführlich erläutert und konkretisiert.

Obwohl Sinti und Roma spätestens seit dem 19. Jahrhundert bürgerliche Rechte besitzen, und somit die Zahl der „Zigeuneredikte“ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts abnimmt, erfahren sie als gesellschaftliche Randgruppe konstante Diskriminierung, Verfolgung und Ausgrenzung. Dabei wird die gesellschaftliche Integration durch entsprechende Erlasse praktisch unmöglich gemacht. So sind Ausweispapiere nur dann auszustellen, „wenn über die Persönlichkeit des Antragstellers und seine Deutsche Reichsangehörigkeit keinerlei Zweifel besteht.“ Auch das Verbot der Ausgabe von Arbeitszeugnissen für Sinti und Roma, die Einschränkungen der Lagererlaubnis auf Grundstücken der Gemeinden oder Gutsbezirke, Einschränkungen der Erwerbstätigkeit durch Schaustellerei und die besonders strenge Überwachung und rigorose Strafverfolgung zeigen die Repressionsmaßnahmen gegenüber Sinti und Roma auf.3 Beispiele für die Diskriminierung und Verfolgung von Sinti und Roma im Raum Hessen finden sich etwa in einer Verfügung des Landrats von Gelnhausen zur Umsetzung der Ministerialanweisung zur „Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ auf die Umsetzung der Ministerialanweisungen auch in Hessen.4 Dass die Aspekte der polizeilichen Überwachung und Erfassung von Sinti und Roma in Hessen in den folgenden Jahren wahrgenommen werden, zeigt ein Verzeichnis des Landrats von Marburg über „inländische Zigeuner“, das deren Aktivitäten erfassen soll.5
(NT)


  1. Der zeitgenössisch geläufige Begriff „Zigeuner“ als Fremdbezeichung für Sinti und Roma wird im heutigen Sprachgebrauch als Diskriminierung eingeordnet, weshalb abgesehen von Quellenzitaten die Eigenbezeichnung „Sinti und Roma“ zu verwenden ist.
  2. Ministerialanweisung des Innenministeriums des Königreichs Preußen zur „Bekämpfung des Zigeunerunwesens“, 17. Februar 1906, in: Digitales Archiv Marburg, Verfolgung der Sinti und Roma in Hessen von der frühen Neuzeit bis nach dem II. Weltkrieg, HStAM Best.180 Hersfeld Nr. 2766.
  3. Vgl. Engbring-Romang, Udo: Die Verfolgung der Sinti und Roma in Hessen zwischen 1870 und 1950, Bamberg 2001, S. 50-55.
  4. Verfügung des Landrats von Gelnhausen zur Umsetzung der Ministerialanweisung zur „Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ vom 17. Februar 1906, 21. April 1906, in: Digitales Archiv Marburg, Verfolgung der Sinti und Roma in Hessen von der frühen Neuzeit bis nach dem II. Weltkrieg, HStAM Best. 180 Gelnhausen Nr. 4391.
  5. Verzeichnis des Landrats von Marburg zur Überwachung und Erfassung von Sinti und Roma, 3. April 1911, in: Digitales Archiv Marburg, Verfolgung der Sinti und Roma in Hessen von der frühen Neuzeit bis nach dem II. Weltkrieg, HStAM Best. 180 Marburg Nr. 2398.
Belege
Weiterführende Informationen
Empfohlene Zitierweise
„Erlass zur „Bekämpfung des Zigeunerunwesens“, 17. Februar 1906“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/5583> (Stand: 9.12.2022)
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