Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Egly, Kriegstagebuch eines Soldaten aus Friedberg, 1916-1917

Abschnitt 24: IV. Quartier in Anderny

[71-74] 2. April.
Zum vierten Mal nach Frankreich hinein!
Weit hinter der Front. Dicht an der Grenze. An klaren Tagen sieht man am Horizont den Rauch der Essen im Saargebiet in langen Streifen und Schwaden ziehen.Marsch nach Anderny, unserem Quartier. Ein kühler Wind weht über die kahlen, braunen Höhen. Bald rechts, bald links der Straße ein einsames Grab mit verwittertem Holzkreuz aus den ersten Tagen des Krieges. Unsere Soldaten, junge Menschenkinder noch, gehen erschauernd und beklommenen Herzens an diesen wenigen Spuren der ersten, schon geschichtlich gewordenen Schlachten vorüber; marschieren schweigend durch Dörfer, die nur noch Ruinen sind, moosbedeckte und epheuumrankte, brandgeschwärzte Ruinen aus den August-Septemberkämpfen des unheilvollen Jahres 1914.Unser Dörfchen, in dem wir Quartier beziehen, ist noch leidlich erhalten. Es sieht aus wie jedes andere [S. 72] französische Dorf auch. Man kommt von einer Höhe oder um eine Biegung der Landstraße und sieht plötzlich zu beiden Seiten des Weges einige zusammengeklebte Häuser stehen. Häuser mit flachem Dach, alle gleich niedrig, alle nebeneinander, keins vor und keins weiter zurück, ohne Gärtchen davor, die so traulich um die Häuschen unserer heimatlichen Dörfer sich schmiegen; Häuser mit winzigen, wenigen Fenstern, so daß man nicht recht weiß, ob man vor der Rückseite eines Hauses oder vor einem Stalle steht. Dieser eigenartige Fenstermangel ist auf die unsinnige Fenstersteuer zurückzuführen. Häufig bestehen die Mauern der Häuser nur aus übereinandergeschichteten Steinen. Baufälligkeit ist eine Tatsache, die man ruhig und als selbstverständlich hinnehmen muß.
Vor kurzer Zeit noch sollen hier die Glocken geläutet haben. Eines Tages aber sind sie aus ihrer luftigen Höhe herabgestürzt worden; sie warten jetzt an der Kirchhofsmauer darauf, ins wilde Barbarenland geschickt und in einer deutschen Schmelze mit gewöhnlichen Boches-Glocken zusammen auf einen anderen Ton gestimmt zu werden, den sie schon einmal gehört haben — damals als deutsche Kanonen in weiter Runde auf den Höhen aufgefahren waren.Sogar Menschen — richtige Zivilmenschen — sind noch hier. Leider fast nur alte Männer und Frauen. Zu meinem freudigen Erstaunen aber werde ich in meinem Quartier in deutscher Sprache von einem schönen, dunkeläugigen Mädchen von neunzehn Jahren begrüßt! Allerliebst entschuldigt sie sich, daß sie mein Zimmer noch nicht ganz in Ordnung hätte bringen können, da wir so spät gemeldet worden seien. Wer [S. 73] will es einem jungen Leutnant so in den ersten Zwanzigern verübeln, daß er mit irgend einem Auftrag seinen Burschen zur Bagage schickt? Daß er die glutäugige Josephine zum Plaudern und Erzählen bewegt? Daß er gewissenlos in der einen Hälfte des Zimmers Unheil stiftet, wenn in der andern flinke Hände Ordnung schaffen? —
„Dunnerwetter aach, alleweil is awer lang genug! Bist de baal fertig? So komm doch erunner, aal Babbelliesl"
„Herrjeh, die Mutterl" Weg war die schöne Josephine.
Dunnerwetter aach . . . baal fertig . . . erunner . . . aal Babbellies'. . .?
Dunnerwetter aach . . . was klang mir nur in die Ohren, so von unten her durch den dünnen Holzboden?
Bin ich in der Heimat oder in Frankreich?
O du schöne, rauhe Sprache meines lieben Hessenlandes!

3. April 1917.
Ich wünsche dem alten Hausvater guten Morgen. Seine Hände zittern beständig; seine Nerven haben einen Stoß erlitten, als neulich sein baufälliges Haus über seinem Kopf einstürzte. Eine Zigarre, echte Kantinenmarke, macht ihn redselig. Ein Sohn in Italien, einer in der französischen Armee, der letzte im August 1914 mit den Deutschen begeistert auf und davon gegangen, um gegen Frankreich zu kämpfen. Und seit drei Jahren von keinem auch nur die geringste Nachricht.
Die Frau ist aus Hessen, aus einem Dorf der Wetterau. Daher also das „Dunnerwetter aach!" von gestern Abend. Die Welt ist nur ein Dorf.
Seine Heimat liegt fern: eine Gemeinde der Sette Communi, Asiago, Arsiero.... [S. 74] Daher also die Glutaugen, Josephine! Daher also die Gestalt, die südländisch weichen Linien des Wuchses, dieses tiefschwarze, glänzende Haar, dieses Feuer und Temperament eines ungarischen Husaren!Ich habe hier nicht viel Schönheit entdecken können an Land und Leuten — außer dir, Josephine! Und dennoch — jedes deutsche Gretchen, ist in seiner sittsamen, märchenhaften Bescheidenheit verehrungswürdiger als deine Rasse!

Um Mitternacht werde ich geweckt. Unangenehme Zeit. Und ich hatte mir eingebildet, mich noch einige Nächte lang eines richtigen Bettes erfreuen zu können! Befehl ist Befehl. Beim Morgengrauen muß ich mein schönes Quartier verlassen und dem Bataillon vorausfahren, um in dem uns zugewiesenen Kampfabschnitt die Maschinengewehrstellungen zu übernehmen.


Personen: Egly, Wilhelm · Josephine
Orte: Anderny · Frankreich · Friedberg
Sachbegriffe: Armee · Bataillon · Betten · Familie · Fenster · Front · Glocken · Gräber · Heimat · Husaren · Leutnant · Mitternacht · Nerven · Rasse · Ruinen · Soldaten · Stellungen · Steuer · Tagebücher · Unterkünfte · Zigarren
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Egly, Kriegstagebuch eines Soldaten aus Friedberg, 1916-1917, Abschnitt 4: IV. Quartier in Anderny“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/65-24> (aufgerufen am 29.03.2024)