Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

Inhalt

↑ Wilhelm Egly, Kriegstagebuch eines Soldaten aus Friedberg, 1916-1917

Abschnitt 17: III. Großstadtbeobachtungen

◀ [4-7] 11. November 1916.
Ich will nicht sagen, daß Mangel an Zeit daran schuld ist, daß ich nach länger als einem Monat erst wieder einmal an meine Aufzeichnungen denke. Ich [S. 5] hätte manchmal eine halbe Stunde erübrigen können. Was mich nicht zum Schreiben kommen ließ, ist der Lärm und die Unruhe, die vom frühen Morgen bis zum späten Abend auch nicht eine Sekunde lang aussetzen.

Heute Nachmittag sind die meisten meiner Kameraden nach Berlin gefahren. Nun herrscht eine ganz ungewohnte Ruhe in der kahlen Holzbude. Auf diese wenigen Stunden habe ich lange gewartet. Warten müssen wir ja doch den größten Teil unseres Lebens, in dem wir das graue Kleid tragen. Wir warten auf dies oder das — vielleicht aber auf nichts so sehnlich als auf Ruhe und Frieden. . .

Ich fülle den langen Abend damit aus, indem ich die Bilder der letzten Wochen mir vergegenwärtige.

Berlin im Krieg.
Arbeit. Arbeit. Arbeit. Ein stolzes, hartes Bild, der Zeit entsprechend.

Aber auch ein unsagbar trauriges Kapitel.
Lassen wir die Tausende, die uns fremd und doch Volksgenossen sind, im Gewühl an uns vorüberfluten! Laßt uns mit offenen Augen zusehen!

Im Westen, dem „vornehmen" Berlin, Luxus und immer noch Wohlleben, nach neuester Mode gekleidete Herren und Herrchen, Damen und Dämchen. Musik, Lachen, Flirten und Kokettieren in den Kaffeehäusern. Geld, Geld, Geld, das keinen Mangel aufkommen läßt und bis zu tausend Mark und darüber für einen — Schinken ausgegeben wird. —
Friedrichstraße, Leipzigerstraße, Potsdamer Platz, Anhalter Bahnhof usw. Lärm, Getöse, Verkehr über Verkehr. Das stolze Bild der arbeitsamen Großstadt. Aber wir gehen keine zehn Minuten, ohne daß drei [S. 6] Mal heiße Blicke und geschminkte Lippen, die im Vorübergehen leise flüstern, um billigen Preis brünstige Gunst verheißen. Es ist das nämliche Treiben, das im Westen nur in „feineren", mehr galanten und versteckten Bahnen sich bewegt.
Berlin N Mietskaserne an Mietskaserne. Lange, lange Straßen. Dicke, dumpfige, rauchige Luft. Vor den Lebensmittelläden lange Reihen stummer, schimpfender, klagender, lachender Frauen und Kinder, die stundenlang eines Brotes oder Stückchen Fleisches wegen warten. In den Straßen Menschen im Arbeitsgewand und in Lumpen. Menschen mit hohlen Wangen und Augen, aus denen Not und Elend schaut. Rußige, schwielige, von harter Arbeit krüpplig gewordene Hände, die aber so unendlich viel mehr leisten für das gemeinsame, große Vaterland als jene goldbereiften, zartbehandschuhten, weißhautigen Hände, deren Pflege die tägliche Sorge der Damen und Kavaliere des Westens ist.
Wir sind vorübergegangen an den Stätten der forschenden Wissenschaft und an den Tempeln der Kunst, ohne Einkehr zu halten. Mit ihnen haben die Millionen, die nicht auf den Höhen wandeln oder nach ihnen hinstreben und sich sehnen, nichts gemein. Wer aber will um der Schönheit willen die Augen verschließen vor dem Elend, dem nackten oder glänzenden Elend oder vor der großen, aufopfernd geduldig getragenen Not? - - - - -
Auch nicht in Friedenszeiten möchte ich unser liebes, altes, trautes Frankfurt gegen das kalte Berlin eintauschen. Unser Frankfurt mit seiner Zeil und seiner Kaiserstraße, mit Roßmarkt und Holzmarkt, mit Römer, Dom, Hirschgraben. Goethehaus und all seinen Gassen [S. 7] und Gäßchen, in die zwischen hohen, mit Holzschnitzereien reichverzierten Giebelhäusern der Himmel gerade noch hereinschauen kann.
Berlin hat seine Denkmäler, seine Siegesallee, seine großen Bauten und Schlösser. Aber es bleibt mir fremd. Ich kann es nicht lieb gewinnen wie unsere süd- und mitteldeutschen Städte.
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