Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Egly, Kriegstagebuch eines Soldaten aus Friedberg, 1916-1917

Abschnitt 5: II. Truppenverlegung von Frankreich nach Rußland

[30-32] [S. 30]
22. Juni 1916.
Nach einer mehrtägigen Fahrt von Frankreich aus, in Deutschland durch meine engere Heimat, durch Mosel- und Lahntal, Sachsen, Schlesien, Böhmen und Galizien sind wir gestern Vormittag sechs Uhr in dem galizisch-russischen Grenzstädtchen Stojanow angekommen, das seit Herbst 1915 die Bedeutung eines wichtigen Etappenortes gewonnen hat. Eine eingleisige Bahn, die durch Truppen- und Geschütztransport, durch ununterbrochenen Nachschub jeglichen Kriegsbedarfs riesig überlastet ist, verbindet es mit Lemberg. [S. 31] Schon bei Krakau, Gorlice, Przemysl und Jaroslau rollten uns in endloser Folge lange Güterzüge mit Flüchtlingen, Müttern und Kindern, Mädchen, alten Frauen und Männern entgegen. Andere Züge waren hoch beladen mit landwirtschaftlichen Maschinen. In letzter Minute wurde alles, was irgend Wert hatte, wurden Menschen und Maschinen aus dem den Russen preisgegebenen Gebiet Galiziens und der Bukowina hinweggeführt.
In Lemberg, das wir am Jahrestag der Befreiung erreichten, erfuhren wir zu unserem Schmerz, daß Czernowitz verloren war.
Als wir in Stojanow ankamen, saßen bayrische Landstürmer in unerschütterlicher Gemütsruhe auf dem Bahnsteig und schmauchten ihre Pfeifen. Die k. u. k. Bundesbrüder aber bauten hastig und erregt eine elektrische Anlage und ein Feldlazarett ab. Es ging das Gerücht, daß in der Nacht und am frühen Morgen Kosaken an der Grenze aufgetaucht seien und noch im Gelände und in den Wäldern unweit der Stadt auf schnellen Pferden umherstreiften.
Wir marschierten nordwärts — nach Rußland hinein.
Weibliche Arbeitskolonnen und k. u. k. Landsturm arbeiteten mit Schaufeln und Hacke, um den elenden Zustand der Landstraße zu bessern. Sie alle sahen den Pickelhauben, die plötzlich wieder in Massen erschienen, als der Russe drohte gefährlich zu werden, erstaunt und ängstlich nach.
Je tiefer wir aber nach Wolhynien hineinkamen, desto weniger Oesterreicher trafen wir an.
Die russischen Tagesberichte hatten eine so hohe Zahl von Gefangenen angegeben, daß nach oesterreichischen [S. 32] Meldungen, welche jene Angaben widerlegen sollten, kein Mann mehr an der wolhynisch-galizischen Front hätte stehen können.
Bald waren wir so im Ungewissen, daß wir mit Marschsicherung, Vorhut und Seitendeckung, vorgehen mußten.
Nachmittags regnete es. Die Wege verschlammten. Durchnäßt und verdreckt erreichten wir am Abend Piaczychowsky, wo wir auf dem feuchten Boden einer Scheune, durch deren weidengeflochtene Wände der naßkalte Nachtwind strich, übernachteten.
In der Dunkelheit tauchte plötzlich wie ein Gespensterzug eine halbe Schwadron pelzgeschulterter Honvedhusaren auf, band die Pferde im Weidengeflecht der Scheunenwand fest, fütterte Hafer und schnell gerupftes Gras und verschwand beim ersten Morgengrauen in der Richtung auf Stojanow.
Bei Tagesanbruch wurden die Feldwachen und Unteroffizierposten eingezogen, das Bataillon entwickelte sich, und breite Schützenlinien gingen durch Getreidefelder, über Wiesen und Heideland, durch Wälder und Sümpfe.
Wir sahen weder Oesterreicher, noch stießen wir auf Russen. Ein unheimlich menschenleeres Land.
Immer vorwärts, immer weiter hinein in die Leere! Gibt es überhaupt einen Weg zurück zu den Menschen? Liegt die Heimat nicht in unerreichbarer Ferne?

[…]


Personen: Egly, Wilhelm
Orte: Böhmen · Czernowitz · Deutschland · Frankreich · Friedberg · Galizien · Gorlice · Jaroslau · Krakau · Lemberg · Piaczychowsky · Przemysl · Rußland · Sachsen · Schlesien · Stojanow · Wolhynien
Sachbegriffe: Befreiung · Eisenbahn · Etappe · Flüchtlinge · Grenze · Husaren · Kosaken · Landschaft · Nachschub · Regen · Tagebücher · Überführung
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Egly, Kriegstagebuch eines Soldaten aus Friedberg, 1916-1917, Abschnitt 4: II. Truppenverlegung von Frankreich nach Rußland“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/65-5> (aufgerufen am 18.04.2024)