Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Eugen Korschelt, Erinnerungen des Marburger Zoologen und Rektors, 1914-1919

Abschnitt 6: Erneute Reise an die Westfront

[176-178]

Zu Hause fand ich einen Brief des Rektors1 vor, der die Mitteilung enthielt, er hätte nach Charleville ins Große Hauptquartier reisen sollen, könne das aber nicht: vermutlich würde ich den Auftrag übernehmen, der gleichzeitig erläutert wurde. Nach dem soeben gehabten Mißerfolg erschien mir diese Aufforderung wie ein Wink, möglicherweise dennoch über das Geschick des jungen Veit etwas ausfindig machen zu können, abgesehen davon, daß ich Auftrag und Reise liebend gern übernahm. Meine Frau allerdings war höchst unglücklich darüber, daß die Unternehmung, und zwar sogleich am nächsten Morgen fortgesetzt werden sollte.

Zunächst fuhr ich nach Trier, um zu sehen, wie ich von dort weiterkäme. Als ich durch den großen, bis auf den letzten Platz mit Offizieren angefüllten Saal der Porta nigra ging, wurde ich angerufen. Es war der Kollege Sauerbruch0=Prof. Dr. Ferdinand Sauerbruch (1875-1951). Sauerbruch war 1908-1910 Professor und Oberarzt an der Universität Marburg., damals bereits in Zürich und nun beratender Chirurg bei einem deutschen Armeekorps. Wir haben bis tief in die Nacht zusammen gesessen und die Lage nach allen Seiten besprochen. Es ging gegen Ende September, die Marneschlacht war vorüber, man war nicht ohne Besorgnis. „Ihr siegt Euch zu Tode!" hieß es wohlwollenderweise von seiten unbeteiligter Beobachter, wie es nach vier Jahren unsäglich schweren Ringens gegen eine Welt [S. 177] von Feinden infolge innerer Zwietracht tatsächlich geschah. Bei richtiger Führung bestand die Möglichkeit eines anderen Verlaufs.

Von Trier weiterzukommen, erwies sich als recht schwierig: doch gelangte ich schließlich nach Luxemburg und von da nach unendlich langer Fahrt ohne jede Verpflegung und gänzlich erfroren beim Morgengrauen bis in das gar nicht so weit entfernte Sedan. Der Bahnhofskommandant, bei dem ich mich meldete, meinte: ..Schade, daß Sie nicht eine Stunde früher kamen, soeben ist Sven Hedin2 abgereist, den Sie gewiß gern kennengelernt hätten: Sie können sein Zimmer haben." Als ich erwiderte, das wäre freilich schade, denn ich kannte ihn schon von früher, erschien ein etwas ungläubiges Gesicht, doch stimmte es trotzdem. (S. 45.) Das Zimmer konnte ich nicht gebrauchen, denn ich wollte so rasch wie möglich weiter. Leider gab es eine unfreiwillige Wartezeit in Sedan, die ich in Erinnerung an die Vorgänge von 1870 zur Besichtigung der Umgebung, auch des Weberhäuschens in Donchery ausnützte, wo Bismarcks Begegnung mit Kaiser Napoleon stattfand. Welcher Abstand der Zeiten! Unweit davon sah man die bei den letzten Kämpfen aufgeworfenen Schützengräben sowie herumliegende Uniformteile und sonstige Ausrüstungsgegenstände.

In einem von Offizieren besetzten Wagen wurde mir ein Platz angewiesen. Auf der Fahrt nach Charleville sah ich die ersten riesigen Granattrichter und die Wirkung der Beschießung auf einige Forts, über deren Einnahme zu Beginn des Krieges berichtet wurde. Tiefer waren schon die Kriegseindrücke in der Stadt Bethel mit ihren teilweise in Trümmer liegenden Straßen und den dicht mit Verwundeten belegten Kirchen. Von den Kämpfen an der Aisne waren sie hierhergebracht worden. Nach Charleville zurückgekehrt, konnte ich noch einer Besichtigung von Truppen beiwohnen, die an die Front gingen und an die der Kaiser eine Ansprache richtete, umgeben von einer Anzahl höherer Offiziere seines Stabes. Vom Kaiser wußte der Marburger Kollege André3 viel zu berichten, da er durch die Stellung, die er in Charleville längere Zeit einnahm, häufig mit ihm in Berührung kam. Zu meinem großen Leidwesen am Krieg in keiner Weise beteiligt, mußte es für mich sehr wertvoll sein, wenigstens einen gewissen Einblick zu erlangen, wozu ich im nächstfolgenden Jahr noch einmal Gelegenheit hatte. Obwohl ich die beabsichtigten [S. 178] Nachforschungen mit Eifer betrieb und dabei weitgehende Unterstützung fand, führten sie nicht zum Ziel, was man mir unter den obwaltenden Umständen vorausgesagt hatte. Wie sich nachher ergab, wäre es auch längst zu spät gewesen.

Nach Erledigung meiner Angelegenheiten fuhr ich abends in einem von einem Hauptmann gesteuerten Wagen zurück. Er fuhr sehr rasch, und es war in dem offenen Wagen bitter kalt; für solche Fälle war ich außerdem nicht eingerichtet. Ich fror erbärmlich. Daß auf den Wagen geschossen wurde, machte weiter nichts aus, das wäre zu dieser Zeit immer so, doch träfen sie nicht, meinte der Wagenführer. In Luxemburg wurde der Wagen gewechselt, so konnte ich die Stadt nochmals betrachten und fand sie in der Nacht besonders romantisch. Ein klarer, kalter Herbstmorgen brach an, eine herrliche Fahrt an der Mosel und Nahe. In Frankfurt läuteten alle Glocken wegen der Einnahme von Antwerpen; es muß also am 9. Oktober gewesen, sein.


  1. Rektor der Universität Marburg im Jahr 1913/14 war der Jurist Prof. Dr. Ludwig Traeger (1856-1927).
  2. Sven Hedin (1865-1952), schwedischer Geographi und Entdeckungsreisender. Hedin hatte seit seinem Studium in Berlin eine positive Einstellung zu Deutschland und verehrte kaiser Wilhelm II. Er veröffentlichte 1915,also noch während des Krieges, das Buch "Ein Volk in Waffen. Den deutschen Soldaten gewidmet" (auch als Feldpostausgabe). Siehe den Wikipedia-Artikel zu Sven Hedin.
  3. Prof. Dr. Fritz André (1859-1927), seit 1899 Professor der Rechtswissenschaften an der Universität Marburg, 1906 Rektor der Universität. Siehe Catalogus professorum academiae Marburgensis 2, S. 76 f.

Personen: Korschelt, Eugen · Traeger, Ludwig · André, Fritz · Sauerbruch, Ferdinand · Hedin, Sven · Wilhelm II., Deutscher Kaiser · Napoléon III., Frankreich, Kaiser · Bismarck, Otto von
Orte: Charleville-Mézières · Trier · Luxemburg · Sedan · Donchery · Bethel · Aisne · Frankfurt · Antwerpen
Sachbegriffe: Rektoren · Großes Hauptquartier · Universität Marburg · Marneschlacht · Schützengräben
Empfohlene Zitierweise: „Eugen Korschelt, Erinnerungen des Marburger Zoologen und Rektors, 1914-1919, Abschnitt 7: Erneute Reise an die Westfront“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/63-6> (aufgerufen am 19.04.2024)