Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Johann Victor Bredt, Erinnerungen des Marburger Rechtsprofessors und Politikers, 1914-1921

Abschnitt 2: Ausmarsch mit der Truppe an die Westfront

[99-100]
Als ungedientes Mitglied des Automobilkorps wird B[redt] dem Generalkommando des XI. Armeekorps in Kassel unter dem Kommandierenden General Otto von Plüskow zugeteilt; mitten auf dem Vormarsch nach Westen wird das XI. Korps aus dem Verband der 3. Armee abgetrennt, um in den Osten verlegt zu werden. B[redt] überbringt am [S. 100] 5. August als „Briefbote für das Unglück der ganzen deutschen Feldarmee“ die Meldung Generaloberst von Hausen1.

In Malmedy liest B[redt] am 30. August in einem Extrablatt, daß „die vom Narew vorgegangene russische Armee in der Stärke von fünf Armeekorps und drei Kavalleriedivisionen in dreitägiger Schlacht in der Gegend von Gilgenburg und Ortelsburg" unter der Führung des Generalobersten von Hindenburg geschlagen sei und verfolgt werde.2

Lange stand ich vor dem Extrablatt tief in Gedanken. Es war das erste Mal seit dem Ausrücken, daß meine hohe Stimmung einer gewissen Beklemmung wich. Also die Russen waren in Ostpreußen entscheidend geschlagen. Hatte es da noch einen Sinn, daß unsere beiden Korps in den Osten kamen ? Ich erinnerte mich der Bestürzung beim Oberkommando Hausen und hatte die unklare Empfindung, daß da irgendwie kopflos gehandelt wurde. Aber weiter: standen wir wirklich siegreich vor Paris ? Die Zeitungen3 schrieben es an dem Tage, aber ich weiß noch gut, wie ich das Gefühl hatte, das könne so nicht stimmen. Es kam wie eine Offenbarung über mich: Nein, das geht nicht so einfach wie 1870! Dieser Krieg hat ganz andere Ausmaße wie der letzte und wird nicht so schnell zu Ende gehen. Von den Geschehnissen an der Front in Frankreich wußte man bei uns nichts, ich konnte also auch nicht ahnen, daß sich schon das Unheil zusammenzog. Ich stand nur tief in Gedanken versunken vor dem Extrablatt und hatte zum ersten Male ein gewisses unklares Vorgefühl von kommenden schweren Tagen. Als daher unmittelbar darauf eine Dame auf mich zukam und mir mit salbungsvollen Worten Blumen überreichen wollte, da lehnte ich lieber ab, obwohl sie etwas von „Dank an die heimkehrenden Sieger" sprach. Es kam mir vor, daß es noch zu früh war.


  1. Das Oberkommando der 3. Armee (Hausen) befand sich in der alten Vaubanschen Festung Rocroy. Plüskow, der den Befehl früher erhalten hatte, informierte durch B[redt] Hausen. Die Meldung bewirkte “eine Explosion von Ärger und Bestürzung. Ich selbst konnte damals noch nicht ahnen, daß ich die Tatsache gemeldet hatte, die in letzter Linie unsere Niederlage an der Marne herbeiführte.“ — Vgl. Kühl I S. 36. Max Frhr. v. Hausen (1846-1922) wurde wegen einer schweren Typhuserkrankung am 12. September von seinem Posten abberufen. Vgl. Th. Vogelsang. In: NDB 8 (1969) S. 113. In seinen „Erinnerungen an den Marnefeldzug“ (2. Aufl. 1922) erwähnt Hausen die Aktion Bredts nicht.
  2. In der Schlacht bei Tannenberg (26.-30. August) konnte die russische Narew-Armee eingeschlossen und größtenteils vernichtet werden; Kühl I S. 47 ff.
  3. Kölnische Volkszeitung Nr. 768 v. 30. 8. 1914 (Erstes Blatt — Sonntagsausgabe): „Der deutsche Sieg in Ostpreußen“.

Personen: Bredt, Johannes Victor · Plüskow, Otto von · Hausen, Max Freiherr von · Hindenburg, Paul von
Orte: Kassel · Malmedy · Narew · Gilgenburg · Ortelsburg · Ostpreußen · Paris · Frankreich
Sachbegriffe: Generalkommando · XI. Armeekorps · Zeitungen · Deutsch-Französischer Krieg 1870-1871 · Marneschlacht · Tannenberg / Schlacht 1914 · Kölnische Volkszeitung
Empfohlene Zitierweise: „Johann Victor Bredt, Erinnerungen des Marburger Rechtsprofessors und Politikers, 1914-1921, Abschnitt 3: Ausmarsch mit der Truppe an die Westfront“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/62-2> (aufgerufen am 29.03.2024)