Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Johann Victor Bredt, Erinnerungen des Marburger Rechtsprofessors und Politikers, 1914-1921

Abschnitt 1: Julikrise und Mobilmachung in Marburg, 1914

[99] Krieg und Kriegspolitik

„Um den ganzen militärischen Dienst kennenzulernen'', wollte B[redt] im Anschluß an das Sommersemester 1914 an einer mehrwöchigen Übung teilnehmen: „Statt dessen rückte ich in den Krieg!"1

In einer Vorlesungspause stand ich mit einigen Kollegen im Sprechzimmer der Universität [Marburg], als das Extrablatt mit der Ermordung des Thronfolgers Franz Ferdinand2 hereingebracht wurde. Wir sprachen natürlich über die Sache, aber niemand von uns erkannte die volle Tragweite. Der akademische Unterricht ging einfach weiter, und man dachte eher an alles andere als an Krieg. Erst allmählich verdichteten sich die Wolken, und die Kriegsgefahr stieg deutlich am Horizont hoch. [ . . .]3

Als die Mobilmachung kam4, da atmete ich auf und dachte an nichts anderes mehr als an Krieg. Meine Mobilmachungsorder lautete auf den fünften Mobilmachungstag abends in Kassel beim Generalkommando.5 Ich hatte also noch ein paar Tage vor mir und erlebte die erste Kriegsstimmung in Marburg. Unmittelbar nach Bekanntgabe der Mobilmachung wurden aus unerklärlichen Gründen die Lebensmittelgeschäfte gestürmt, und ein Ladenbesitzer rief mich um Hilfe an. Ich ging zum Jägerbataillon und erhielt Mannschaften, die vor den Geschäften aufgestellt wurden. Am folgenden Tage waren sie schon nicht mehr nötig, weil die Besinnung zurückgekehrt war.6

Am Sonntag, dem 2. August, war ich mit meiner Mutter in der reformierten Kirche. Auf dem Hinweg hatte ich gehört, daß Italien sich neutral verhalte, was mir keine Überraschung war. Nun teilte Pastor Plannet7 — allerdings verfrüht — von der Kanzel mit, daß auch England gegen uns sei, und diese Nachricht schlug mir in die Seele. Den Krieg gegen England hielt ich für aussichtslos, nicht zu Lande, aber zur See. Auf dem Heimweg machte ich meinem Herzen vor meiner Mutter Luft und war tief gedrückt in meiner Stimmung. Später dachte ich an derartiges nicht mehr, und der alte Optimismus brach sich wieder Bahn.


  1. Die kursiv gesetzten Passagen stammen vom Bearbeiter Martin Schumacher.
  2. Am 28. 6. 1914 wurden Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gemahlin in Sarajewo ermordet.
  3. B. bedauert, daß der Kaiser wisse, „was auf dem Spiele steht“, und „es nie zum Kriege kommen lassen“ werde.
  4. Am Nachmittag des 1. August befahl der Kaiser die Mobilmachung des deutschen Heeres und der Kaiserlichen Marine.
  5. In Kassel befand sich das Generalkommando des XI. Armeekorps.
  6. In der Lokalpresse wird dies nicht erwähnt; freundI. Mitteilung der Oberhessischen Presse (Marburg) v. 21. 6. 1968.
  7. Wilhelm Plannet, (1877-), 1911-1924 Pfarrer in Marburg.

Personen: Bredt, Johannes Victor · Franz Ferdinand, Österreich, Erzherzog · Plannet, Wilhelm · Wilhelm II., Deutsches Reich, Kaiser
Orte: Sarajevo · Kassel · Marburg · Italien · England
Sachbegriffe: Julikrise · Universitäten · Universität Marburg · Attentat von Sarajevo · Mobilmachung · Generalkommando · Kriegsstimmung · Lebensmittel · Jäger-Bataillon Nr. 11 · Heer · Marine · XI. Armeekorps
Empfohlene Zitierweise: „Johann Victor Bredt, Erinnerungen des Marburger Rechtsprofessors und Politikers, 1914-1921, Abschnitt 10: Julikrise und Mobilmachung in Marburg, 1914“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/62-1> (aufgerufen am 28.03.2024)