Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Otto Brühl, Das Marburger Landsturm-Bataillon auf dem Weg nach Flandern, 1914

Abschnitt 5: Erster Tag des Marburger Landsturm-Bataillons in Brügge


Der erste Sonntag in Feindesland.

Sonntag früh weckte uns der dämmernde Morgen gegen 7 Uhr aus unserem Schlafe und da wir voraussichtlich noch mehrere Stunden an dieser Stelle liegen mußten, wurde versucht, Kaffee zu kochen. Wasser und Holz wurden schnell aus einem benachbarten Gehöft requieriert und bald brodelte das Wasser aus den unterwegs gekauften Kochkesseln, wobei uns die von den neben uns stehenden ca. 200 annektierten belgischen Lokomotiven geholten dicken Kohlenblöcke ein vorzügliches Brennmaterial lieferten. Bald war der Kaffee fertig und wurde am Bahndamm eingenommen und hierzu statt des gewohnten Zwetschenkuchens der Rest der stark zusammen geschmolzenen Marburger Vorräte verzehrt. Bei steigender Sonne entwickelte sich bald ein reges Lagerleben.

Die Morgentoilette wurde diesmal nicht in dem gewohnten kleinen Nebenabteilchen, sondern in dem oben erwähnten Gehöft in einem Stalleimer in etwas durchgreifender Weise, als dies seither der Fall war, vorgenommen. Punkt 10 Uhr, als auch in Biedenkopf die Kirchenglocken läuteten, trat die Kompagnie zum Gottesdienste unter dem sonnigen Himmel Belgiens zusammen. Der Gesang des niederländischen Dankgebetes eröffnete die würdige Feier, zu der der deutlich hörbare starke Kanonendonner ein stimmungsvolles Echo bildete. Eine Rede aus dem uns in Marburg bei dem letzten Gottesdienst übergebenen kleinen Buche, sowie der Gesang von „Nun danket alle Gott" beendigte dieselbe. Bald wendeten sich die Gedanken wieder realeren Gedanken zu. Die schön abgebrannten Kohlen luden geradezu zum Kartoffelbraten ein. Eine benachbarte Kartoffelmiete lieferte die nötigen Kartoffeln dazu und bald waren dieselben unter meiner sachkundigen Leitung sehr schön knusprig gebraten. Sie mundeten denn auch tadellos, trotzdem uns die beliebten Biedenköpfer Zutaten, Zwiebeln, Butter und Würstchen und besonbers ein gutes Glas Ps. dazu fehlten. Die Zeit hiernach wurde dazu benutzt, um die bekannten Landsleute einmal aufzusuchen, um sich nach deren Befinden zu erkundigen, wobei festzustellen war, daß dasselbe überall zufriedenstellend ist, wenn auch die Kriegsbärte sich teils blond, teils schwarz, teils aber mich schon bedenklich grau, sehr schön entwickelt hatten.

Der Kanonendonner dauert nun schon den ganzen Tag ununterbrochen an und läßt auf eine westlich von Ostende stattfindende Schlacht schließen.

Soeben wurde uns von durchkommenden Matrosen mitgeteilt, daß bei Helgoland 26 englische Schlachtschiffe zerstört worden seien Diese Nachricht erweckte bei uns natürlich freudige Gefühle, jedoch ist die Nachricht zu schön, um wahr zu sein. Das, was wir am meisten vermissen, ist das Fehlen jeglicher Nachrichten aus der Heimat und auch vom Kriegsschauplatz, trotzdem der letztere gar nicht so weit entfernt zu sein scheint.

Mittags um ½ 1 Uhr wurde das opulente Mittagsmahl, bestehend aus einem Stück des aus dem Bagagenwagen mitgenommenen fetten Speckes mit einem Stück Kommisbrot eingenommen, wozu wir noch einige unterwegs ergatterten Büchsen Oelsardinen verzehrten. Welch' ein Unterschied zwischen den seither von unseren Frauen so sorgfältig gewählten Sonntagsbraten und heute. Aber es schmeckte uns die heutige Kost auch ganz gut, und war jedenfalls nicht imstande, unsere gute Stimmung im geringsten zu beeinflussen. Nach dem Essen lagen wir in der Sonne am Bahndamm zusammen, uns angenehm unterhaltend und dem Kanonendonner lauschend, welcher um ½ 3 Uhr plötzlich verstummte. Dies gab natürlich zu den vielseitigsten Vermutungen Veranlassung und führte zu einem Kriegsrat, wie er mir noch so angenehm aus den schönen Abendstunden bei Roode in Erinnerung ist. Um ½ 5 ertönte endlich das Signal zum Einsteigen, um nach unserem Endziel Brügge zurückzufahren, das wir dann um ½ 6 Uhr nach genau hundertstündiger Fahrt erreichten.


Personen: Brühl, Otto
Orte: Biedenkopf · Marburg · Belgien · Helgoland · Brügge
Sachbegriffe: Landsturm-Bataillon Marburg · Landsturm · Truppentransporte · Kriegsbärte · Kanonendonner · Kartoffelbraten · Kartoffeln · Matrosen · Seekrieg
Empfohlene Zitierweise: „Otto Brühl, Das Marburger Landsturm-Bataillon auf dem Weg nach Flandern, 1914, Abschnitt 5: Erster Tag des Marburger Landsturm-Bataillons in Brügge“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/7-5> (aufgerufen am 19.04.2024)