Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Karl Spieß, Die Mobilmachung in Biedenkopf und die Kriegsmonate bis März 1916

Abschnitt 7: Schulsituation, Landsturmaufgebot, Wirtschaftsprobleme

[Sp. 239]
Der Eisenbahnverkehr hat mittlerweile – vom 8. August ab – eine weitere Einschränkung erfahren. Nur noch je zwei Züge vermitteln die Verbindung nach oben und unten 7.30 vorm. und 7.30 nachm. nach Marburg, 8.47 und 4.47 nach Kreuztal. Auf der Hauptstrecke fahren nur Personenzüge und auch diese nur in verlangsamtem Tempo. Eine Fahrt nach Mainz dauert über zwölf Stunden, nach Hamburg brauchten dorthin zurückgekehrte Biedenköpfer rund vierundzwanzig Stunden. Die Post vereinfacht ihren Betrieb. Die Zahl der Briefsendungen ist ohnehin zusammengeschrumpft und der Ausfall der Züge macht verschiedene Bestellgänge entbehrlich. Die Postsachen werden nur zweimal täglich ausgetragen und weil eine Reihe von Postunterbeamten ins Feld gerückt ist, leisten Schüler Briefträgerdienste. Sie machen sich eine Freude daraus, helfen zu können. Und auch zu anderen Zwecken stehen sie zur Verfügung. Im Stadtschulhause ist unter Lehrer Simmermachers Leitung eine förmliche Wache eingerichtet, von wo man sich Schulkinder zu irgendwelchen Botengängen und dergleichen kommen lassen kann. Noch sind ja Schulferien und das ist gut. Die Kinder hatten ja ohnehin keine Aufmerksamkeit für den Unterricht, vielleicht auch die Lehrer nicht. Die Schulkinder gehen unter Aufsicht in den Wald, sie pflücken Beeren und suchen Pilze. Die Früchte werden entweder zu Gunsten des Frauenvereins verkauft oder ihm zur Zubereitung von Säften, Limonaden und dergl. überlassen. Er wird alles zum Wohle der Krieger, deren Fürsorge er sich widmet, zu verwenden wissen. Der Gedanke, regelmäßige Strickabende einzurichten, hat freudige Zustimmung gefunden und der Arbeit, die an solchen Abenden geleistet wird, kann der Segen nicht fehlen.

In der Zwischenzeit – am 15. August – ist der Aufruf des Landsturms erfolgt. Schon am 17. August ziehen die gedienten Landstürmer nach Marburg zum Kämpfrasen, um ausgehoben zu werden. Viele werden der Armee ein­gereiht, Andere kehren zurück in die Heimat, teils froh, ihr Handwerk fortführen zu können, teils mißvergnügt, weil sie nun nicht „mittun" können. Die aber, die für tauglich befunden werden, reißen weitere Lücken in unsere Seelenzahl und mit Sorgen und Bangen überlegen wir, ob sich dieses oder jenes Geschäft wird behaupten können, wenn der Krieg von längerer Dauer sein wird. Ein Metzger in der Oberstadt hat seinen Laden geschlossen und das Schaufenster mit Dielen vernagelt, der Gärtner hat den Betrieb eingestellt und über­läßt fremden Leuten den Verkauf seiner Blumen, denen im Winter ja doch die nötige Pflege nicht gewährt werden kann. Die Hüttenwerke haben vorläufig stillgelegt, ruhig und leer wird es in ihren Räumen, und in manch' anderem Geschäft wird man die Folgen des Feldzuges spüren, wenn Wochen und Monate verflossen sein werden. Aber um so wirksamer können die Erntearbeiten betrieben werden. Die reichgesegneten Felder, voll und gelb von reifen Aehren, lachen so golden wie droben am blauen Himmel die Sonne. „Schwer herein schwankt der Wagen, kornbeladen . . . „, bei all der ernsten Zeit ein herzerfreuendes Bild, gleichsam als eine Fügung des Himmels anzusehen. Alle die aber, denen es an Arbeit fehlt, rücken ins Feld und in den Wald, wo die Stadt für lohnende Beschäftigung gesorgt hat. Darben sollen die Familien nicht, deshalb schafft die Stadt Arbeit und macht Mittel flüssig, auf daß zurückgebliebenen Frauen und Kindern nichts mangelt. Nach dieser traurigen Zeit kommt ja wieder eine bessere und dann wird sich der geschwächte Stadtsäckel auch wieder erholen können.


Personen: Spieß, Karl · Simmersmacher, Lehrer
Orte: Biedenkopf · Marburg · Kreuztal · Mainz · Hamburg
Sachbegriffe: Eisenbahn · Post · Zugverkehr · Schulkinder · Lehrer · Vaterländische Frauenvereine · Strickabende · Landsturm · Eisenhütten · Erntearbeiten
Empfohlene Zitierweise: „Karl Spieß, Die Mobilmachung in Biedenkopf und die Kriegsmonate bis März 1916, Abschnitt 16: Schulsituation, Landsturmaufgebot, Wirtschaftsprobleme“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/1-7> (aufgerufen am 18.04.2024)