Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Otto Brühl, Das Marburger Landsturm-Bataillon auf dem Weg nach Flandern, 1914

Abschnitt 3: Transport durch Belgien über Lüttich, Löwen und Brüssel


Nachdem wir kurz nach 1 Uhr den Zug wieder bestiegen, hatten, überschritten wir am Donnerstag 1.15 Uhr nachmittags unter großer Begeisterung die belgische Grenze. Sofort wurde es uns auch klar, daß wir uns in Feindesland befanden. Während vorher die Einwohnerschaft uns überall zujubelte, sahen wir hier nur ernste, resignierte Gesichter. Ein weiterer Unterschied zwischen Deutschland und Belgien zeigte sich auch hier, nämlich der, daß auf der doppelgleisigen Bahn der Zug auf dem linken statt wie bei uns auf dem rechten Geleise fuhr. Auch die Spuren der hier stattgefundenen Kämpfe ließen sich bald feststellen an umgeworfenen Lokomotiven und Eisenbahnwagen und ausgehobenen Schützengräben und Artilleriestellungen, sowie an einzelnen zerschossenen Häusern. Die Gegend, die wir aus unserer Fahrt nach Lüttich passierten, war landschaftlich sehr schön und besonders schön durch die wundervolle Färbung der herbstlichen Laubes und gleicht in manchen Teilen dem Bergischen Lande. Die Fabriken, welche hier sehr zahlreich sind, scheinen zum Teil wieder in Tätigkeit zu sein, da man in vielen hämmern hörte und auch die Schornsteine rauchten.

Um 3.15 Uhr erreichten wir Lüttich, konnten aber hier, außer einigen zerschossenen Gebäuden und auch einem einzelnen Kriegergrab, wenig von den Spuren der hier stattgehabter Kämpfe sehen, da diese sich an einer anderen Stelle abgespielt haben.

Von Lüttich ging die Fahrt weiter über Löwen nach Brüssel, sodaß wir leider von diesen Städten wenig sehen konnten. In Löwen konnten wir jedoch feststellen, daß die beiden Straßenzüge rechts und links der Bahn, welche unsre Truppen jedenfalls durchzogen haben und wo dieselben von der Bevölkerung beschossen worden sind, vollständig zerschossen, und verbrannt waren. Ein trostloser Anblick, jedoch eine notwendige Maßnahme, welche scheinbar ihren Eindruck auf die Belgier auch nicht verfehlt hat. In dieser Nacht hatten, wir noch ein kleines Intermezzo zu durchleben. Der Zug hielt längere Zeit auf offener Strecke. Wir hatten es uns im verdunkelten Abteil recht bequem gemacht und lagen in Pantoffeln in gemütlichem Schlummer, als plötzlich Gewehrschüsse fielen, die natürlich sehr aufweckend auf uns einwirkten. Unser erster und wohl auch nächstliegender Gedanke war, dass, wir von Franktireurs beschossen würden, da wir auch das Aufschlagen der Kugeln genau hören konnten. Eine allgemeine Bewegung entstand sofort im Zuge, in möglichster Eile wurden die Schuhe angezogen, natürlich in der Dunkelheit verkehrt, der rechte Schuh an den linken Fuß und umgekehrt. Bald klärte sich jedoch der Vorgang auf, es hatte einer unserer Leute, der scheinbar geistig nicht ganz intakt war, die Schüsse abgegeben. Dieser Mann wurde auch sofort am nächsten Morgen zur Untersuchung seines Geisteszustandes nach Marburg geschickt.

Von Brüssel ging es nicht die direkte Bahnstrecke nach Gent, sondern auf einer weiter südlich führenden Strecke über Denderleuven, Herzelle, Melle. Hier hatten wir auf sehr vielen Stationen auch wieder längeren Aufenthalt und uns war hierbei Gelegenheit gegeben, mit der Bevölkerung, etwas näher in Verbindung zu treten. Die Bevölkerung besteht hier fast ausschließlich aus Vlämen, mit denen man sich aus plattdeutsch eher verständigen konnte, als aus französisch. Die Einwohner waren alle sehr zuvorkommend und lieferten, natürlich gegen Bezahlung, alles was wir wünschten. Hier hatte ich auch Gelegenheit, zum erstenmale belgisches Bier zu trinken, ein obergäriges Bier, welches etwas säuerlich schmeckt, den Durst aber sehr schön stillt. Die Bevölkerung hatte auch, eine merkwürdige Auffassung der Kriegslage, welche zum größten Teil aus holländischen Zeitungen herrührte. So wurde uns in Melle eine solche neue Zeitung gezeigt, in der mitgeteilt wurde, daß Berlin von den Russen in Brand gesteckt und Metz gefallen sei. Die Leute machten recht erstaunte Gesichter, als wir sie über den wirklichen Stand der Dinge aufklärten, der allerdings trotz unserer größten Bemühung, nicht von jedem geglaubt wurde.


Personen: Brühl, Otto
Orte: Belgien · Lüttich · Bergisches Land · Löwen · Brüssel · Marburg · Gent · Denderleuven · Herzelle · Melle · Berlin · Metz
Sachbegriffe: Landsturm-Bataillon Marburg · Truppentransporte · Landsturm · Schützengräben · Artillerie · Fabriken · Kriegszerstörungen · Franktireurs · Flamen · Bier · Russen · Kriegspropaganda
Empfohlene Zitierweise: „Otto Brühl, Das Marburger Landsturm-Bataillon auf dem Weg nach Flandern, 1914, Abschnitt 4: Transport durch Belgien über Lüttich, Löwen und Brüssel“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/7-3> (aufgerufen am 19.04.2024)