Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Topografie des Nationalsozialismus in Hessen

Übersichtskarte Hessen

Hessisch Lichtenau, KZ-Außenkommando


Heinrichstraße 20 – In der NS-Zeit: Heinrichstraße
Klassifikation | Nutzungsgeschichte | Indizes | Nachweise | Abbildungen | Zitierweise
Klassifikation

Kategorie:

Verfolgung

Subkategorie:

Konzentrationslager 

Nutzungsgeschichte

Objektbeschreibung:

Das Lager wurde auch „Lager Vereinshaus“ bzw. „Lager Süd“ genannt und war das erste Lager der Dynamit Nobel AG. Es wurde zwischen 1938 und 1940 in drei Bauabschnitten aufgebaut. Das Gelände gehörte der Stadt Hessisch Lichtenau. Auf ihm stand auch das im Volksmund „Vereinshaus“ genannte „Auguste-Viktoria-Heim“. Das Lager bestand aus zehn Wohn-, zwei Wirtschafts-, drei Toiletten-, zwei Wasch- und sechs Lagerbaracken bzw. Schuppen. Von diesen 23 Gebäuden waren nur zwei (teil-)massiv errichtet: der Heizungsraum und ein Materiallager. Das Lager war auf Teilen des Areals eines bestehenden Zwangsarbeiterlagers eingerichtet worden.

Beschreibung:

Zwischen August 1944 und März 1945 bestand in Hessisch-Lichtenau ein KZ-Außenlager. Hier waren rund 1.000 jüdische Frauen, die überwiegend aus Ungarn stammten, untergebracht. Sie kamen am 2. August 1944 im Ort an. Die Frauen waren über Auschwitz und Buchenwald nach Hessisch-Lichtenau gebracht worden, um in der Sprengstofffabrik in Hirschhagen zu arbeiten. Sie mussten täglich den Weg vom Lager zur Sprengstofffabrik zurücklegen, der insgesamt rund zwölf Kilometer lang war.

Bewacht wurden die Zwangsarbeiterinnen von 24 SS-Männern und 26 Aufseherinnen. Zur Rechenschaft gezogen wurden diese nach Ende des Zweiten Weltkrieges nicht.

Unterbringung und Bekleidung waren miserabel: Als die Frauen ankamen, waren die vorgehaltenen Strohsäcke und Decken bereits verlaust. Es standen nur 700 Schlafplätze zur Verfügung, so dass sich viele der im Schichtdienst Arbeitenden einen Bettplatz teilen mussten. Ab Herbst 1944 litten sie unter der Kälte, denn sie mussten weiter die dünnen Kleider tragen, die sie aus Auschwitz mitgebracht hatten. Die meisten hatten weder Unterwäsche noch Strümpfe. Das Tragen schwerer Holzschuhe führte zu Entzündungen und Vereiterungen der Füße.

Die Gefangenen arbeiteten in elfstündigen Schichten, inklusive einer 30-minütigen Pause. Zu den Aufgaben gehörten das Abfüllen von TNT in Bomben, Granaten und Tellerminen wie auch die Verarbeitung von Pikrinsäure. Andere Zwangsarbeiterinnen wurden für Erd- und Schachtarbeiten eingesetzt oder an Bauunternehmen weitervermietet. Wer Umgang mit hochgiftigen Chemikalien hatte, drohte, da keine Schutzmasken getragen wurden, schwer zu erkranken: So traten neben Verfärbungen von Haut, Haaren und Nägeln auch Blockierungen der Atemwege und Vergiftungserscheinungen an den inneren Organen (Leber, Milz) auf. Entsprechend hoch war der Krankenstand.

Die medizinische Versorgung war katastrophal. In Ermangelung von Medikamenten verordnete die aus Italien stammende jüdische Häftlingsärztin „Schonung“. Die Zunahme der Schonungskranken im Herbst bewog den Buchenwalder SS-Standortarzt Schiedlausky dazu, eine Selektion im Lager anzuordnen. In deren Gefolge wurde ein Drittel der Zwangsarbeiterinnen – das waren 206 Personen – als arbeitsunfähig „ausgesondert“ und am 27. Oktober zur Ermordung nach Auschwitz deportiert.

Obwohl das Außenlager von Buchenwald am 29. März 1945 aufgelöst wurde, war das Leid der Frauen damit noch nicht beendet. Vielmehr wurden die verbliebenen 790 Häftlinge mit dem Zug nach Leipzig transportiert und nach einigen Tagen Richtung Elbe getrieben. Erst die Begegnung mit amerikanischen Truppen am 25. April brachte ihre Befreiung mit sich.

Nutzungsanfang (früheste Erwähnung):

2. August 1944

Nutzungsende (späteste Erwähnung):

29. März 1945

Weitere Nutzungen des Objekts:

Nutzung nach NS-Zeit:

Nach dem Krieg diente das Lager zunächst als Unterkunft für US-amerikanische Soldaten „und Polen“, ab Frühjahr 1946 als Lager für Flüchtlinge. Später wurden einzelne Baracken an örtliche Gewerbetreibende vermietet. In einem Teil des Lagers war das Lichtenauer Realgymnasium untergebracht. Bis Mitte der 1950er Jahre wurden alle Holzbaracken abgerissen bzw. versetzt. 1984 waren auf dem Gelände die Grundschule, die Förderstufe der Freiherr-vom-Stein-Schule sowie ein Kindergarten untergebracht. Heute steht auf dem Gelände die „Schule Heinrichstraße“ (Grundschule Hessisch Lichtenau). Eine Gedenktafel oder einen Gedenkstein, der darauf hinweist, das an dieser Stelle das nationalsozialistisches Unrecht geschah, existiert nicht.

Indizes

Orte:

Hessisch Lichtenau

Sachbegriffe:

Konzentrationslager · Außenkommando · Verfolgung · Wirtschaft

Nachweise

Literatur:

Ungedruckte Quellen:

  • Freundliche Hinweise von Harald Stirn
Zitierweise
„Hessisch Lichtenau, KZ-Außenkommando“, in: Topographie des Nationalsozialismus in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/nstopo/id/564> (Stand: 8.1.2024)