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Georg-Büchner-Preis an Reiner Kunze, 21. Oktober 1977

Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung verleiht den Georg-Büchner-Preis an den Schriftsteller, Übersetzer und DDR-Dissident Reiner Kunze (geb. 1933). Das Preisgeld des jährlich im Rahmen der Herbsttagung der Akademie vergebene Literaturpreises beträgt in diesem Jahr erstmals 20.000 DM, wurde also ausgehend von den bisher üblichen 10.000 DM verdoppelt und damit zum am höchsten dotierten deutschen Literaturpreis.1

Mit der Vergabe des Büchner-Preises an den erst im April aus der DDR ausgesiedelten Schriftsteller Reiner Kunze gewinnt die Preisverleihung auch an einer aktuellen politischen Relevanz. Mit seinem Prosaband „Die wunderbaren Jahre“, der 1976 heimlich in der Bundesrepublik veröffentlicht wurde, erreichte Kunze zwar in Westdeutschland Bekanntheit, fiel aber in der DDR wegen der scharfen Kritik am politischen System in seinen Texten in Ungnade. Darauf nimmt der Schriftsteller selbst in seiner Dankrede Bezug und berichtet von der politischen Realität in der DDR, die ihm ein Leben als freier Schriftsteller fast unmöglich machte und ihn schließlich zur Ausreise gezwungen hatte.2 Anschließend hält Heinrich Böll die Laudatio auf den Preisträger, in der er sich zur Ausreise Kunzes äußert: „Die Litanei derer, die die DDR verlassen oder verlassen müssen, wird immer länger – wenn wir mit Rudolf Hagelstange und Theodor Plivier anfangen, ist sie schon lang genug, und die Länge der Litanei sollte uns nicht zum Triumph gereichen, sondern zur Trauer. Ein Land wird ärmer ohne seine Autoren, und an dieser Verarmung kann uns nicht gelegen sein.3

Die Laudatio Bölls macht „großen Eindruck auf die Zuhörerschaft“ und verleitet diese zu mehrfachen Zwischenapplausen, berichtet die Frankfurter Allgemeine Zeitung.4 Sie bezeugt der Akademie, in diesem Jahr die Wahl des Büchner-Preiseträgers mit Reiner Kunze richtig getroffen zu haben, unterlässt es aber nicht, wie auch schon in den vergangenen Jahren, starke Kritik an der Struktur und der inhaltlichen Ausrichtung der Akademie zu üben. „Einer langen und offenbar heiligen Tradition folgend, hat die Akademie es auch diesmal sorgfältig vermieden, naheliegende und möglicherweise aktuelle Themen aufzugreifen. Angesichts einer hochgespannten innenpolitischen Situation, die dem alten Vorwurf der Schreibtischtäterschaft wieder willkommene Munition liefert, in der das Verhältnis der Intellektuellen (und aller anderen auch) zu dieser Republik einer neuen Bewährungsprobe ausgesetzt wird, zieht sich die Darmstädter Akademie, die sich die ‚Deutsche‘ nennt, fein zurück und läßt sich von sechs Literaturbetriebsräten die Zeit vertreiben, von Übersetzern mit Zahlen bewerfen, von Verlegern mit Eigenreklame behäufen, ohne auch nur den Ansatz einer Diskussion zu leisten5, lautet das diesjährige vernichtende Urteil der F.A.Z.

Der Georg-Büchner-Preis, ursprünglich ein Stiftungspreis der hessischen Landesregierung und der Stadt Darmstadt, wird seit 1953 von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung an „Schrift­stellerinnen und Schrift­steller, die in deutscher Sprache schreiben, durch ihre Arbeiten und Werke in besonderem Maße hervor­treten und die an der Gestaltung des gegen­wärtigen deutschen Kultur­lebens wesentlichen Anteil haben“, verliehen.6 Die Preisverleihung findet traditionell während der Herbsttagung der Akademie in Darmstadt statt.
(NT)


  1. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.9.1977, S. 47: Literaturaustausch in Darmstadt.
  2. Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung: Auszeichnungen: Georg-Büchner Preis: Reiner Kunze: Dankrede.
  3. Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung: Auszeichnungen: Georg-Büchner Preis: Reiner Kunze: Laudatio.
  4. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.10.1977, S. 21: Akademie im Abseits.
  5. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.10.1977, S. 21: Akademie im Abseits.
  6. Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung: Auszeichnungen: Georg-Büchner Preis.
Belege
Weiterführende Informationen
Empfohlene Zitierweise
„Georg-Büchner-Preis an Reiner Kunze, 21. Oktober 1977“, in: Zeitgeschichte in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/5548> (Stand: 13.9.2021)
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