Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Karl Wilhelm von Meister, Zeitungsberichte des Regierungspräsidenten in Wiesbaden an den Kaiser, 1914-1918

Abschnitt 15: Bericht vom 27. Oktober 1917 (2)

[1117-1118] II. Volksernährung in Stadt und Land

Die selten günstige Kartoffelernte dieses Jahres hat die Ernährungsschwierigkeiten recht gemildert. Leider ist die Körnerernte nicht so gut gewesen. Auch wird es in diesem Jahre noch mehr an Futtermitteln fehlen als 1m vergangenen. Hierdurch ist eine stärkere Viehabschlachtung und eine weitere Steigerung der Fettnot im Winter bedingt. Um der städtischen Bevölkerung so viel als möglich Fett zukommen zu lassen, wird demnächst allgemein eine noch schärfere Einwirkung auf die Landbevölkerung erfolgen, was indessen im Regierungsbezirk Wiesbaden mit seinem vorwiegenden Kleinbetrieb ganz erheblichen Bedenken begegnet.
Die 102.000 landwirtschaftlichen Betriebe des Regierungsbezirks zerfallen in:

62.000 in Größen zwischen ein und acht Morgen, in
26.000 in solchen zwischen acht und zwanzig, in
14.000 zwischen zwanzig und achtzig, in
328 zwischen achtzig und vierhundert und in nur
30 Betriebe mit einer Größe von über vierhundert Morgen.

Von den 102.000 landwirtschaftlichen Betrieben halten 38.234 Betriebe Vieh. Die Kühe müssen in allen Betrieben - abgesehen von den ganz großen - sehr ausgiebig als Gespanntiere mitbenutzt werden. Molkereien sind im Regierungsbezirk Wiesbaden so gut wie keine vorhanden. Versuche, [1118] Molkereien zustande zu bringen, haben vor dem Kriege niemals Erfolg gehabt. Unter diesen Umständen sind denn auch zu Friedenszeiten die großen Städte des Bezirks, insbesondere die - nach Norden, Osten und Süden zu eines zu ihrem Regierungsbezirke gehörenden "Hinterlandes" ganz entbehrende - Stadt Frankfurt a.M. stets von auswärts, in erster Linie aus dem Großherzogtum Hessen, mit Milch und Butter versorgt worden. Diese Versorgung hat nach Eintritt der Ernährungsschwierigkeiten eine tiefgehende Störung erlitten weil die Nachbarbezirke zunächst für sich selbst sorgen wird vom Rest tatsächlich nur das herauslassen, was sie selbst glauben entbehren zu können. Trotzdem bieten zur Zeit die Ernährungsschwierigkeiten im großen ganzen ein etwas freundlicheres Bild.

Der Versorgung der Bevölkerung mit gewissen Rohstoffen muß dagegen neuerdings eine gesteigerte Aufmerksamkeit gewidmet werden. Ganz besonders schwierig gestaltet sich die Kohlenversorgung, die bisher in völlig ungenügender Weise erfolgt ist. Auch hier ist die Landbevölkerung, die im Regierungsbezirk Wiesbaden von jeher vorwiegend mit Holz geheizt hat bessergestellt als die städtische. Die Versorgung der Bevölkerung mit Schuhwerk und Kleidern haben kommunale Altbekleidungsstellen in Angriff genommen. In den größeren Städten sollen außerdem kommunale Schuhwerkstätten errichtet werden.

III. Mitwirkung der Behörden bei Bewältigung der Ernährungsschwierigkeiten

Mit den schwer belasteten Leitern der Kommunalverbände und der Gemeinden arbeiten Hand in Hand in steigend erfreulicher Weise die Wirtschaftsausschüsse. Da deren Mitglieder aus allen Kreisen der Bevölkerung genommen werden, sind sie auch besonders geeignet, für die allgemeine Aufklärung der Bevölkerung zu wirken und insbesondere den Landwirten darüber keinen Zweifel zu lassen, wie die starken Eingriffe in die Einzelwirtschaften in der Not der Zeit begründet sind. Die für den Regierungsbezirk Wiesbaden in Frankfurt a.M. errichtete Bezirksstelle für Gemüse und Obst hat die außerordentlich reiche Ernte von Wirtschaftsobst in großem Umfange den Marmeladenfabriken zuführen können und damit erheblich dazu beigetragen, daß mit einer Tagesmenge von 30 Gramm auf den Kopf der Bevölkerung für einen guten Brotaufstrich im Winter gesorgt ist. Bei jedem Kommunalverbande besteht eine Kohlenstelle, welche die Unterverteilung auf die Haushaltungen vorzunehmen hat.


Personen: Meister, Karl Wilhelm von
Orte: Frankfurt · Wiesbaden
Sachbegriffe: Ernährung · Futtermittel · Kleidung · Landwirtschaft · Marmeladen · Rohstoffe · Sammelstellen
Empfohlene Zitierweise: „Karl Wilhelm von Meister, Zeitungsberichte des Regierungspräsidenten in Wiesbaden an den Kaiser, 1914-1918, Abschnitt 5: Bericht vom 27. Oktober 1917 (2)“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/32-15> (aufgerufen am 24.04.2024)