Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Albert Schorn, Kriegs-Chronik der Stadt Camberg, 1914-1921

Abschnitt 7: Probleme bei der Mehl- und Brotversorgung

[14-16] 1915

Seit dem verhängnisvollen Rückzug an der Marne war die Hoffnung auf ein baldiges Ende des Krieges mehr und mehr geschwunden. Immer deutlicher trat die Absicht der Feinde zutage, das deutsche Volk, wenn nicht durch die Waffen, so durch den Hunger auf die Kniee zu zwingen. Die Herrschaft über die Meere ermöglichte es ihnen, uns den größten Teil der Zufuhren zu unterbinden. Deutschland war daher auch in der Ernährung fast ganz auf sich selbst angewiesen. Es galt, die Erträge der heimischen Produktion restlos zu erfassen und aufs zweckmäßigste zu verteilen. Die Behörde erließ dringende Mahnungen zu sparsamer Verwendung der Lebens- und Futtermittel. Am 4. Februar gab die Landwirtschaftskammer in Wiesbaden eine ausführliche Anweisung, wie eine sparsame und doch auskömmliche Fütterung des Viehes durchzuführen sei. Am gleichen Tage mußte jeder Hausvorstand den Bestand seiner Getreide- und Mehlvorräte der Stadtbehörde schriftlich mitteilen. Unrichtige Angaben wurden mit strengen Strafen bedroht. Am 26. Februar ordnete der Kreisausschuß die Einführung der Brotkarten an. Niemand durfte von jetzt ab wöchentlich mehr als 1400 g Mehl oder 2050 g Roggenbrot beziehen, einerlei ob er beim Bäcker oder Händler kaufte oder aus eigenen Beständen entnahm. An Stelle von 200 g Mehl durften auch 260 g Weizenbrot (4 Brötchen zu je 65 g) bezogen werden. Gastwirtschaften und Herbergen erhielten für den einzelnen Logiergast täglich höchstens 100 g Mehl oder eine entsprechende Brotmenge. Genaue Bestimmungen wurden über Gewicht, Form und Beschaffenheit des Brotes erlassen. Weizenbrot mußte 65 g, Roggenbrot 2050 g oder 1465 g wiegen. Roggenbrot durfte nur in runder Form gebacken werden. Es mußte einen Zusatz von 10 % des Roggenmehlgewichts an Kartoffelflocken oder Kartoffelstärkemehl erhalten. Wurden gequetschte oder zerriebene Kartoffeln hierzu verwandt, so mußte der Zusatz 30 % betragen. Kuchen durften auch weiterhin in Haushaltungen gebacken werden, jedoch sollten sie an Roggen- und Weizenmehl nicht mehr als 10 % des Kuchengewichts enthalten. Bäcker und Brothändler durften nur gegen Vorlage eines mit dem Gemeindedienstsiegel versehenen Brotbuches und nach eigenhändiger Abtrennung der für die Woche gültigen Brotkarten durch den Verkäufer Mehl und Backwaren verabreichen. Die Verkäufer mußten die gesammelten Brotkarten an jedem Montag bis 6 Uhr abends beim Gemeindevorstand abliefern. Abhanden gekommene Brotbücher oder Brotkarten wurden nicht ersetzt. Den Händlern, Bäckern und Müllern war jeder Verkauf von Brot und Mehl über die Grenzen des Kreises Limburg hinaus untersagt. Den Landwirten war es gestattet, selbstgezogenes Getreide vermahlen zu lassen, aber sie durften alsdann nicht mehr als 7 ½ kg Brotgetreide monatlich zur Ernährung eines jeden ihrer Wirtschaftsangehörigen verwenden und erhielten keine Brotkarten ausgehändigt. Die Mühlen durften die Vermahlung nur gegen Vorzeigung eines von der Ortspolizeibehörde ausgestellten Mahlscheines vornehmen. Wer diesen Anordnungen, die mit dem 1. März in Kraft traten, nicht folgte, setzte sich der Gefahr einer Gefängnisstrafe bis zu 6 Monaten oder einer Geldbuße bis zu 1500 Mk. aus. Trotzdem waren Zuwiderhandlungen häufig. Vor allem kamen die Bäcker mit den neuen Vorschriften leicht in Konflikt. Ganze Backöfen voll Brot sind ihnen verdorben, weil sie mit der Zubereitung des neuen „Kriegsbrotes" noch nicht vertraut waren. Darum wichen sie in der ersten Zeit häufig von den Vorschriften ab. Eines Tages mußten sich sämtliche Camberger Bäcker vor dem Gerichte verantworten. Sie wurden in Würdigung ihrer schwierigen Lage jedoch nur zu einer geringen Geldbuße (20 Mk.) verurteilt. Nicht bloß die Bäcker ärgerten sich über das neue Brot. Dem ganzen Volk war es verhaßt, da sein Genuß unangenehme Blähungen des Magens hervorrief, der sich erst langsam daran gewöhnte.


Personen: Schorn, Albert
Orte: Camberg
Sachbegriffe: Marneschlacht · Blockadepolitik · Landwirtschaftskammer · Viehhaltung · Brotkarten · Brot · Kartoffeln · Kuchen · Bauern · Mehl · Versorgungsprobleme · Kriegsbrot · Mahlscheine
Empfohlene Zitierweise: „Albert Schorn, Kriegs-Chronik der Stadt Camberg, 1914-1921, Abschnitt 17: Probleme bei der Mehl- und Brotversorgung“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/34-7> (aufgerufen am 19.04.2024)