Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Albert Schorn, Kriegs-Chronik der Stadt Camberg, 1914-1921

Abschnitt 4: Veränderungen im öffentlichen Leben, Angst vor Spionen

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Die erste Erschütterung machte bald einer zuversichtlichen Stimmung Platz. Diese wurde genährt vor allem von den jungen Kriegern selbst, die den Mut nicht sinken ließen. Sie hofften, bis Weihnachten spätestens wieder daheim zu sein, freilich keinem fiel der Abschied leicht.

Das ganze öffentliche Leben nahm andere Formen an. Der seitherige Fahrplan für Personen- und Güterzüge galt nicht mehr, es fuhren während der ersten Kriegswochen nur noch Militärzüge. Vom 1. bis 18. August waren durch Erlaß des kommandierenden Generals sämtliche Schulen geschlossen, damit die Ernte eingebracht und die notwendigen landwirtschaftlichen Arbeiten ausgeführt werden konnten. Im Sinne dieses Erlasses beschloß eine Bürgerversammlung, die am 5. August im Saalbau Herboldsheimer stattfand, daß bei guter Witterung alle gesunden Kinder, auch solche, die weder daheim noch bei ihren Verwandten notwendig waren, bei den ländlichen Arbeiten helfen sollten. Geldlohn wurde ihnen nicht gezahlt. „Sie sollen wissen", so hieß es in der Entschließung, „daß es sich um die Abwehr großer Not und um den Dienst für das Vaterland handelt". [S. 10]

Die Erklärung des Kriegszustandes rief in Deutschland eine Spionenangst hervor, deren Begleiterscheinungen von unfreiwilligem Humor nicht frei waren. Besondere Nahrung erhielt sie durch ein amtliches Telegramm vom 2. August, das folgenden Wortlaut hatte: „Nach zuverlässigen Nachrichten bereisen russische Offiziere und Agenten in großer Zahl unser Land. Die Sicherheit des Deutschen Reiches fordert, daß aus patriotischem Pflichtgefühl heraus neben den amtlichen Organen das gesamte Volk unbedingt dazu mitwirkt, solche gefährliche Personen unschädlich zu machen. Durch rege Aufmerksamkeit in dieser Hinsicht kann jeder an seiner Stelle zum glücklichen Ausgang des Krieges beitragen". Diese Aufforderung wurde nur zu gewissenhaft befolgt. Allenthalben suchte man nach Spionen und — allenthalben fand man welche. Fast immer stellte es sich freilich heraus, daß es wieder mal der falsche gewesen war. Die harmlosesten Seelen waren der Gefahr ausgesetzt, von übereifrigen Spionenriechern gefaßt und der Staatsgewalt überantwort zu werden. Auch in unserer Gegend liefen beängstigende Gerüchte um. Feindliche Spione, so erzählte man sich, [S. 11] seien dabei, die Fernsprechleitungen und Eisenbahnschienen zu zerstören, die Wasserwerke, Brunnen und Flüsse mit Cholera- und Typhusbazillen zu verseuchen, die Bahnübergänge zu unterminieren u. a. m. Tag und Nacht wurde das Camberger Wasserwerk, die Telegraphenleitungen und die wichtigeren Bahnübergänge streng bewacht. Die Handwerksburschen standen ganz besonders im Verdacht, verkappte Spione zu sein. Ließ sich einer blicken, gleich ward er festgenommen und von der gestrengen Polizei abgeführt, hinterdrein die Scharen der Kinder und an allen Türen und Fenstern die Erwachsenen: jeder wollte sich den guten Fang besehen. Auch die Autofahrer hatten schwer zu leiden. An vielen Stellen war durch Steine oder Holzblöcke die Straße gesperrt. Mit Knüppeln und Stöcken bewaffnet hatten sich Männlein und Weiblein — und ganz besonders die letzteren — dort postiert. Wehe dem Autofahrer, der nicht sofort hielt oder den Anordnungen nicht willig Folge leistete! Das Treiben artete so aus, daß die Stadtbehörde einschritt. Sie ließ am Rondell einen Schlagbaum errichten, [S. 12] bei dem die Autofahrer zwecks Feststellung der Personalien anhalten mußten. Trotz allen Suchens konnte weder hier noch in der näheren Umgegend auch nur ein einziger wirklicher Spion gefaßt werden.


Orte: Camberg
Sachbegriffe: Eisenbahn · Zugverkehr · Schulen · Erntearbeiten · Bürgerversammlungen · Kriegszustand · Spionenangst · Spione · Wasserwerke · Cholera · Typhus · Brunnenvergiftung · Telegraphenleitungen · Sabotage · Straßensperren
Empfohlene Zitierweise: „Albert Schorn, Kriegs-Chronik der Stadt Camberg, 1914-1921, Abschnitt 6: Veränderungen im öffentlichen Leben, Angst vor Spionen“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/34-4> (aufgerufen am 23.04.2024)