Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Albert Schorn, Kriegs-Chronik der Stadt Camberg, 1914-1921

Abschnitt 1: Camberg vor dem Ersten Weltkrieg

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Vor dem Kriege.

Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, besondes aber seit dem glücklichen Ausgang des deutsch-französischen Krieges und der Gründung des Deutschen Reiches setzte in unserem Vaterlande ein gewaltiger wirtschaftlicher Aufschwung ein. Fabriken jeglicher Art schossen allerorten förmlich aus der Erde hervor. In der chemischen Industrie und im Schiffsbau nahm Deutschland vor dem Weltkrieg die erste Stelle ein. In den anderen wichtigsten Industriezweigen stand es hinter seinen Konkurrenten nur wenig zurück. Die Industrie benötigte eine große Masse von Arbeitern und gab einem immer erheblicheren Teile unseres Volkes Brot und Verdienst. Die Bevölkerung vergrößerte sich alljährlich um ½ Million und wuchs seit dem Jahre 1870 von 40 Millionen auf 66 Millionen Seelen an. Die Landwirtschaft bot all ihre Kräfte auf, um durch bessere Bewirtschaftung des Bodens die Ernährung zu gewährleisten. Aber trotz erheblich vergrößerter Ernteerträge und Viehbestände reichten bald die im Lande erzeugten Lebensmittel nicht mehr aus. Auch die für die Bekleidung nötigen Rohstoffe wurden zu knapp. Daher mußte Fleisch und Getreide und Baumwolle und vieles andere in stets wachsenden Mengen von draußen eingeführt werden. Als Entgelt für die Einfuhrartikel wanderten einheimische Erzeugnisse in die Fremde. Handel und Schiffahrt blühten empor. Auf allen Meeren wehte die deutsche Flagge, in allen Ländern arbeiteten rastlos deutsche Kaufleute und Milliarden deutschen Kapitals. Im Jahre 1913 nahm Deutschland in der Reihe der Welthandelsmächte mit einem Gesamtaußenhandel von 22,5 Milliarden den zweiten Platz ein. Der binnenländische Handelsverkehr mit den europäischen Nachbarstaaten belief sich auf rund 3 Milliarden im Jahre.

An diesem Aufstieg des deutschen Volkes nahm auch unser Camberg in bescheidenem Maße teil. Zwar entstanden hier keine Fabriken größeren Stils; wiederholte Versuche, industrielle Unternehmer für Camberg zu interessieren, schlugen fehl. Auch die Zahl der Bewohner vergrößerte sich nicht. Sie ist sich seit Beginn des vorigen Jahrhunderts nahezu gleich geblieben. Nach wie vor [S. 4] mußte sich leider ein beträchtlicher Teil der männlichen Bevölkerung den Lebensunterhalt in der Fremde verdienen. Aber während bisher faßt nur die Nachbarstädte Wiesbaden, Mainz und Frankfurt als Arbeitsorte in Frage gekommen waren, führte jetzt die Eisenbahn in größere Ferne, wo reicherer Verdienst winkte. Gar mancher Spargroschen ist „aus dem Niederland" nach Camberg gewandert. Hier kam in den Jahrzehnten nach dem Kriege dank des allgemeinen wirtschaftlichen Aufstiegs, vor allem aber auch dank seiner eigenen Tüchtigkeit ein solider gewerblicher Mittelstand hoch, der es durch weg zu einer behaglichen Wohlhabenheit brachte und dem Leben in der Stadt sein Gepräge gab. Es ließ sich in Camberg wie faßt überall im deutschen Vaterlande angenehm und billig leben. Die Preise jener goldenen Zeit muten uns heute märchenhaft an. Das Pfund Rindfleisch kostete 90 Pfg., 1 Laib Brot 44 Pfg., 1 Schoppen Milch 10 Pfg., 1 Pfund Butter 120 Pfg. Der Schneider machte für 30—50 Mk. einen Anzug aus gutem Stoff, der Schuster für 15 Mk. ein paar Schuhe, und der Maurer baute uns für 6—8000 Mk. ein freundliches Häuschen. Diese Zahlen, die noch lange den Neid späterer Geschlechter erwecken werden ließen sich beliebig vermehren. Da kam der Krieg.


Personen: Schorn, Albert
Orte: Camberg · Wiesbaden · Mainz · Frankfurt
Sachbegriffe: Deutsch-Französischer Krieg 1870-1871 · Gründerzeit · Fabriken · Industrie · Chemische Industrie · Schiffbau · Arbeiter · Bevölkerungsentwicklung · Ernteerträge · Kaufleute · Außenhandel · Eisenbahn · Preisentwicklung
Empfohlene Zitierweise: „Albert Schorn, Kriegs-Chronik der Stadt Camberg, 1914-1921, Abschnitt 20: Camberg vor dem Ersten Weltkrieg“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/34-1> (aufgerufen am 18.04.2024)