Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Rudolf Hoffmann, Briefe aus dem Weltkrieg 1914-1918

Abschnitt 13: 20.7.1915: Brief des Gustav Fenner aus Marburg

[180-183]

Erläuterung:
Gustav Fenner wurde am 3. September 1887 in Marburg geboren (Siehe Eintrag im Geburtsnebenregister Marburg von 1887). Er fiel am 8. August 1916, gut zwei Wochen nachdem er diesen Brief geschrieben hatte, im Gefecht bei Łomża (Russland, heute Woiwodschaft Podlachien, Ostpolen). Aus dem Eintrag im Sterbenebenregister Marburg von 1915 geht hervor, dass Fenner, vor seiner Einberufung Kandidat für das höhere Lehramt, als Landsturmmann dem Mobilen Ersatz-Regiment Königsberg I angehörte. Er war ledig und wurde 27 Jahre alt.


20. Juli 1915.

... Sturm war befohlen. Wir holten, so gut es ging, die Leute zusammen, doch es wollte nicht gehen. Die schwere Artillerie fügte uns schwere Verluste bei. Einen Menschen habe ich fast auf dem Gewissen, doch es war nun einmal meine Aufgabe. Ich trieb einen aus dem Loch nach vorn, und kaum hatte der Mann fünf Schritte gemacht, als er einen Kopfschuß bekam und tot zu [S. 181] Boden stürzte. Es ist eben Krieg. Gerade so gut oder noch hundert mal eher konnte es mich treffen. Gegen 12 wurde nun endgültig Sturm befohlen; aber es wäre Massenmord gewesen, unsere 6. und 7. Kompanie auf die Front der feindlichen Stellung zu jagen, vor der zwei dichte Reihen Drahtverhaue lagen. Da gab Hildebrand den Befehl, ohne sich um den Anschluß nach links, um die zögernden 75er1 zu kehren, nach rechts herauf den Weg zu stürmen und von der Flanke, gedeckt durch eine kleine Unebenheit, den Sturm zu wagen. Eine Stunde lang hatten unsere Minenwerfer gearbeitet — der Schreck aller Russen —, und als am Morgen unsere Artillerie zu schießen begonnen hatte, war es, wie wenn ein Stein vom Herzen fiele. Also rechts herauf brachen unsere Reihen, und hinauf gegen die Stellung brach auch das erste Bataillon von rechts mit vor, das eine leichtere Stellung gehabt hatte. Und der Russe — was kaum je einer geglaubt hatte — er wich, er floh, und frei atmeten wir auf, mit Eifer hinter dem Feinde den Hügel, die Terrassen hinauf. Oben angelangt blieb ich zurück, ich mußte beim Führer bleiben, aber auch mit meiner Kraft war es fast vorbei. Der schwere Affe, die drückende Hitze, das zehnfach erregte Blut, der Sturm den steilen Berg hinauf, die schweren Drahtverhaue hindurch, das mühevolle Hindurchhalten — es was fast zuviel für uns ermattete Truppen. Hinter uns kam die Reserve und nahm die Verfolgung auf, machte eine Menge Gefangene auf und hinter dem Berge und in dem dahinter liegenden Kornfelde; noch mancher unserer Soldaten fiel dabei. Jetzt hat das 2. Bataillon keinen Offizier mehr. Unsere Sturmkolonnen sammelten sich auf dem Abhange und nahmen Aufstellung an den angewiesenen Plätzen, während andere Truppen die Stellung hinter dem Hügel, die von den Russen gegen Flankenfeuer rechts ausgebaut war, besetzten.

Nun hatten wir endlich etwas Ruhe, wir besichtigten die russische Stellung, die ein Kunstwerk ersten Ranges war, die eigentlich nie zu erstürmen gewesen wäre. Ein Regiment der unsrigen hätte sie gegen eine ganze Armee verteidigen können. Ein gefangener Russe sagte auch, die Stellung hätte unbedingt gehalten werden müssen, sie sollte durch Verstärkungen eine undurchdringliche Mauer bilden, und nun hätten wir sie — gottlob ohne so riesige Verluste. Der Sturm hatte bedeutend [S. 182] weniger Verluste gegeben als der Tag vorher, der schwere Angriff, wir in unserer Kompanie hatten fünf Tote, aber viele, viele Verwundete, 40 Mann, 120 waren wir noch. Die Stellung war in vier Terrassen aufgebaut, auf jeder Terrasse konnten ganze Schützenreihen stehen und sich aus einer Linie zu einer immer höheren zurückziehen. Man kann es kaum glauben, daß wir es erobert hatten, aber wir standen als Sieger da — stolz schlug unser Herz über solch kühne Tat, die die Russen nimmer für möglich gehalten hatten. Die Moral der Russen ist ganz flöten, wie die Gefangenen alle sagen; unsere schwere Artillerie und besonders die Minen sind für sie der Teufel in leibhaftiger Gestalt. Ein Russe sagte, der Deutsche müsse ja siegen, da er sein Leben, einfach alles an die Sache setze, während der Russe getrieben den Krieg führe.

Aber kaum hatten wir unser Plätzchen für die Nacht und für das Essen ausgesucht, als wieder ein Befehl kam, gegen den sich jeder aufbäumte. Vorwärts — wieder voran! — Der Feind ist in vollem Rückzug auf Nowgorod. Die Wälder vor uns sind frei, Ausnutzung des Sieges bis auf's äußerste! —

Mit einem Gefühl des Stolzes, aber auch der Erbitterung ging's zum Sammelplatz. Dort bekam jeder einen Becher Kaffee; Brot gab es für die meisten Mannschaften schon lange nicht mehr. Ich hatte noch etwas und lebte mit dem Fett und Pasta darauf wie ein Herrgott. Also vorwärts! Die 6. Kompanie hatte wieder die zweifelhafte Ehre, von den 3 Bataillonen Königsberg I voran als Vorhut, als Spitze zu dienen. Nun ging es also weiter an den vielen toten Russen vorbei, hinaus durch ein breites Tal gegen Nowgorod an die Narewlinie. Herrlich solch' Vorwärtskommen! Also wir waren zunächst einen Kilometer vom Narew; als wir links schwenkend an die linke Ecke eines langen, dem Narew parallel laufenden Waldes gezogen waren, schwenkten wir rechts am Waldessaum entlang, vor uns Nowgorod in Flammen. Unsere Schwere funkte andauernd in die Stadt, und in ein riesiges Flammenmeer hüllte sich das ganze Stadtgebiet. Wir zogen den Weg auf die Waldhöhe und nahmen dort am Waldesrand Stellung. Die 75er gingen nun durch die Kornfelder vor uns gegen einen sichtbaren ausgebauten Schützengraben,der aber leer war. — Da auf einmal setzte eine wütende Schießerei ein aus dem Dorfe, dem [S. 183] Brückenkopfe Margowniki und dem Waldgebiet zwischen Narew und Pissa. Gegen Nacht legte sich dann das Feuer. Die Aufgabe war erfüllt, der Ort war als besetzt erkannt, das Gelände ziemlich aufgeklärt. Was rechts von uns liegt, ist noch schleierhaft. Gegen 9 Uhr waren wir angekommen, hatten die Gräben aufgeworfen. Die Russen hatten auf ihrem Rückzug hier anscheinend gehalten. Jetzt um 11 Uhr gab es zum erstenmal wieder Essen, vor lauter Müdigkeit konnten wir fast gar nichts essen und schliefen um ½ 12 Uhr felsenfest ein, nachdem alles geordnet war.


  1. Vermutlich das Infanterie-Regiment „Bremen“ (1. Hanseatisches) Nr. 75.

Personen: Fenner, Gustav
Orte: Marburg · Łomża · Podlachien · Russland · Nowgorod · Narew · Margowniki · Pisa (Fluss)
Sachbegriffe: Feldpost · Feldpostbriefe · Geburtsnebenregister · Gefallene · Sterbenebenregister · Ostfront · Frontabschnitt: Polen · Lehrer · Landsturm · Mobiles Ersatz-Regiment Königsberg I · Sturmangriffe · Artillerie · Drahtverhaue · Infanterie-Regiment „Bremen“ (1. Hanseatisches) Nr. 75 · Minenwerfer · Russen · Tornister · Kriegsgefangene · Offiziere · Leichen
Empfohlene Zitierweise: „Rudolf Hoffmann, Briefe aus dem Weltkrieg 1914-1918, Abschnitt 8: 20.7.1915: Brief des Gustav Fenner aus Marburg“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/173-13> (aufgerufen am 28.03.2024)