Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Neuhaus, Landsturm-Infanterie-Bataillon Hersfeld, 1914-1915

Abschnitt 2: Passieren der belgischen Grenze, 21.10.1914

[Teil I, S. 1-6] [2-3] Am 21. mittags 1 Uhr machten wir dann vor der Grenzstation Herbesthal1 Halt und marschierten nach dem Mittagessen durch den Ort, um vom Bahnhof aus nach Belgien hineinzufahren. 3.30 Uhr überfuhren wir die Grenze unter brausenden Hurras, und sogleich hatten wir den Krieg mit allen seinen Schreck-nissen vor Augen. Ueberall zerstörte Lokomotiven, aufgerissene Schienen in den Gräben, gesprengte und schnell wieder hergestellte Brücken, Häuserruinen, dächerlose Gebäude, leere Fensterhöhlen. Feindselig ist die Haltung der Bewohner, finster blicken sie unserem Zuge nach, freundliches Zuwinken beantworten sie mit eindeutigen Gebärden. Aber die Bahnstrecke ist gut geschützt. Da stehen an allen Tunnels, über 20 durchfuhren wir bis Namur, allen Brücken und Bahnübergängen unsere wackeren Kameraden aus allen Gegenden Deutschlands und halten mit wohlgefüllten Patronentaschen und aufgepflanzten Seitengewehren treue Wacht. Ihre Uniformen sind oft nur notdürftig zusammengestellt: Zivilhosen, Lodenjoppen mit aufgenähten roten Spiegeln und blauen Achselklappen, Tschakkos2 von anno Dazumal. Dagegen sind wir außerordentlich gut ausgestattet, und wir haben tatsächlich bisher – auch nicht in der Hauptstadt Brüssel – ein Landsturm-Bataillon angetroffen, das sich in dieser Beziehung mit uns messen konnte. Die Wachmannschaften haben sich oft ganz gemütlich eingerichtet in den Wärterbuden und naheliegenden Häusern, überall haben sie deutsche Fahnen gehißt, und sogar zu Scherzen noch Zeit und Lust gefunden. [S. 3] So hatte man hinter Verviers3 eine Bohrmaschine als Karussell ausgestattet, auf dem ein paar Strohpuppen, die mit belgischen und französischen Uniformen bekleidet waren, von einem Landstürmer bewegt wurden. Mit frohem Zuruf wurden wir überall begrüßt, und nach Möglichkeit haben wir ihrer an den Wärterbuden angekreideten Bitte um Zeitungen entsprochen. Wir fühlen es jetzt am eigenen Leibe, wie schmerzlich es ist, so ganz ohne Nachricht von dem zu bleiben, was so gar nicht weit von uns vor sich geht. Wir mußten auch bewundern, wie gut und wie schnell sich unsere braven Eisenbahner in die veränderte Sachlage gefunden haben, denn die belgischen Signalvorrichtungen sind ganz andere, als unsere, auch verkehren z. B. die Züge auf dem linken Geleise und dementsprechend sind auch die Weichen angelegt. Die Gegend, wir durchfuhren bis Namur4 das Tal der Vesdre5, die dort in die Maas fließt, ist unbeschreiblich schön, die Häuser dagegen schrecklich nüchtern gebaut.

In Angeleur6, einem Vorort von Lüttich, hielt unser Zug längere Zeit. Die Not der ärmeren Bevölkerung muß sehr groß sein. Hier und auch später immer wieder drängte sie heran, bettelte um Brot und Geld oder suchte Kleinigkeiten zu verkaufen. Und unsere Landstürmer waren bald erweicht und gaben reichlich, und vergaßen darüber ganz, daß nur wenige Schritte von ihrem Zuge entfernt sich das frische Grab eines deutschen Kameraden befindet, der, vielleicht von denselben Leuten, hinterlistig erschossen wurde.

Nun senkte sich leider die Nacht herab und verbarg uns die Stadt Lüttich mit ihren Forts, verbarg uns das Tal der Maas, von dessen Herrlichkeit wir nur ab und zu ein bescheidenes Stückchen erhaschen konnten. Um 10 Uhr abends erreichten wir den Bahnhof von Namur. Schon glaubten wir, daß nun die anstrengende Bahnfahrt glücklich zu Ende sei, und rüsteten uns zum Aussteigen. da hieß es: Das Bataillon fährt weiter nach Brüssel.


  1. Belgische Stadt in der Gemeinde Lontzen, ca. 80 km von Köln entfernt.
  2. Tschako, Kopfbedeckung der Jäger und der Verkehrstruppen.
  3. Die Entfernung zum Grenzort Herbesthal beträgt ca. 16 km.
  4. Hauptstadt der Region Wallonie, ca. 65 km süd-östlich von Brüssel.
  5. Erstreckt sich 70 km vom Hohen Venn bis zur Mündung nahe Lüttich in die Maas.
  6. Angleur, Vorort von Lüttich.

Personen: Neuhaus, Wilhelm
Orte: Angleur · Brüssel · Herbesthal · Hersfeld · Köln · Lüttich · Namur · Verviers
Sachbegriffe: Eisenbahnreise · Landsturm · Uniformen · Zerstörungen
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Neuhaus, Landsturm-Infanterie-Bataillon Hersfeld, 1914-1915, Abschnitt 3: Passieren der belgischen Grenze, 21.10.1914“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/21-2> (aufgerufen am 19.04.2024)