Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Die letzten Tage vor dem Krieg in der Oberhessischen Zeitung (Marburg), Juli 1914

Abschnitt 32: 31.7.1914: In gespannter Erwartung


Marburg und Umgegend.

Marburg, 31. Juli.

In gespannter Erwartung. Gestern abend durchschwirrten wieder allerhand sensationelle Gerüchte über eine angeordnete Mobilmachung usw. die Stadt. Die Folge war, daß bis in die Nachtstunden hinein eine gewaltige Menschenmenge in den Straßen hin- und herflutete, um die neuesten Telegramme abzuwarten. Daß es auch in den Gastwirtschaften wieder recht lebhaft zuging, ist selbstredend. Schließlich drängte dann die Erregung wieder viele auf die Straße und in spätester Nachtstunde kam es zu lärmenden Kundgebungen. Eine Anzahl Studenten hatten sich Musik verschafft und zogen damit durch die Straßen nach dem Marktplatz und nach dem Friedrichsplatz und schließlich wieder zurück nach dem Marktplatz. Es wurden flammende Reden gehalten und patriotische Lieder gesungen. Der Lärm und das Getöse wurde so arg, daß nicht nur die Bewohner der Innenstadt, sondern die weit draußen vor den Toren wohnenden Leute geweckt wurden, und sich ebenfalls auf die Straße begaben. So kam es, daß die Menschenmenge in den Straßen immer mehr anschwoll. Vom Marktplatze aus, wo die Polizei der Musik Schluß bot, zogen viele nach dem Bahnhof, wo es wieder zu lärmenden Kundgebungen kam. Unter den Straßenpassanten befanden sich auch eine Menge Frauen und Mädchen. Erst gegen 3 Uhr verlief sich die Menge. Man kann den Ausdruck der Spannung, der in diesen Ereignissen liegt, sehr wohl verstehen, zumal allgemein angenommen wurde, nach „totsicheren Meldungen", daß gestern abend noch die deutsche Mobilmachung bekannt werden würde. Die offiziellen Dementis, die noch in den Abendstunden verbreitet wurden, vermochten diesen Glauben nicht mehr zu erschüttern. Die Art, wie sich diese Spannung kundgibt, kann man aber leider nicht billigen. Die deutsche Mobilmachung, die nach allergrößter Wahrscheinlichkeit den allerschnellsten Ausbruch des Weltkrieges nach sich zieht, ist eine so ernste Sache, sowohl für das Volk, wie für den Einzelnen, daß bei dem Ernst der Zeiten eine würdige Haltung des Volkes auch ein erstes Erfordernis ist. Mag den Veranstaltern auch zunächst eine würdige Kundgebung vorgeschwebt haben, dem was schließlich daraus wurde, kann man dieses Prädikat nicht erteilen, vorläufig ist auch die Mobilmachung noch gar nicht ausgesprochen und mancher, der sie im Hinblick auf die Seinen mit banger Sorge erwartet, wurde gestern abend durch die Kundgebung in die Meinung versetzt, sie sei schon da. Die Verbreitung derartiger falscher Gerüchte ist aber im höchsten Grade zu bedauern, wegen der Folgen, die derartiger blinder Lärm in ernsten Dingen haben muß.

[Oberhessische Zeitung vom 31. Juli 1914]


Orte: Marburg
Sachbegriffe: Zeitungen · Oberhessische Zeitung · Kundgebungen · Telegramme · Studenten · Marktplätze · Patriotismus · Polizei · Mobilmachung
Empfohlene Zitierweise: „Die letzten Tage vor dem Krieg in der Oberhessischen Zeitung (Marburg), Juli 1914, Abschnitt 18: 31.7.1914: In gespannter Erwartung“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/39-32> (aufgerufen am 25.04.2024)