Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Die letzten Tage vor dem Krieg in der Oberhessischen Zeitung (Marburg), Juli 1914

Abschnitt 27: 29.7.1914: Sozialdemokratische "Unruhen" in Berlin


Sozialdemokratische Unruhen in Berlin.

Berlin, 29. Juli. Am späten Abend fanden gestern [28. Juli] Unter den Linden große Demonstrationen statt, die in einen förmlichen Kampf zwischen Sozialdemokraten und Schutzleuten ausarteten. Die Sozialdemokraten hatten 27 Protestversammlungen gegen den Krieg angesagt. Die Versammlungen selbst verliefen ruhig. Danach aber hatten sich die Teilnehmer zu Demonstrationen Unter den Linden verabredet, obwohl diese für alle Aufzüge von der Polizei verboten worden waren. Die Versammlungsteilnehmer erschienen zu Fuß und zu Wagen und in Automobilomnibussen und spazierten auf dem Mittelweg ruhig umher, bis sie auf mehrere Tausend angewachsen waren. Eine ebenso große Menge bürgerlicher Zuschauer umsäumte die Bürgersteige. Es war ein ungewöhnlich großes Aufgebot von Schutzleuten herangezogen worden. Als berittene Schutzleute beginnen wollten, die Straßen zu säubern, begannen die Demonstranten plötzlich mit Rufen „Nieder der Krieg!" ihrem Protest Ausdruck zu geben. Die Schutzleute ritten hierauf mitten unter die Menge, und diese versuchte sich auf die Bürgersteige zu flüchten, wohin ihnen die Schutzleute folgten. In der Nähe der russischen Botschaft kam es zu einer neuen großen Ansammlung, wobei das Arbeiterlied gesungen und Rufe „Nieder mit dem Krieg!" ausgestoßen wurden. Die bürgerlichen Zuschauer verfolgten die Vorgänge mit lauten Rufen der Entrüstung. Es gelang den Schutzleuten, die Linden zu säubern, doch leisteten die Demonstranten passiven Widerstand; es mußten mehrere Verhaftungen vorgenommen werden. — Sobald die Schutzleute den Rücken kehrten, sammelte sich die Menge hinter ihnen aufs neue. Der Kampf wogte hin und her. Gleichzeitig hatte sich eine große Schar bürgerlicher Demonstranten angesammelt, die vom Publikum unterstützt, immer mehr Raum gewannen. Sie sangen patriotische Lieder. Immer heftiger wurde der Tumult, der bis in die späten Nachtstunden andauerte und sich in die Nachbarstraßen fortpflanzte, besonders in die Friedrichstraße. Später versuchten Demonstranten in die Wilhelmstraße, in der die meisten Ministerien, darunter das Auswärtige Amt und das Reichskanzerpalais liegen, vorzudringen. Das Vorhaben wurde aber durch die Polizei vereitelt.

[Oberhessische Zeitung vom 29. Juli 1914]


Orte: Berlin
Sachbegriffe: Zeitungen · Oberhessische Zeitung · Sozialdemokraten · Unruhen · Demonstrationen · Polizei · Friedenskundgebungen · Pazifismus · Arbeiterlied
Empfohlene Zitierweise: „Die letzten Tage vor dem Krieg in der Oberhessischen Zeitung (Marburg), Juli 1914, Abschnitt 2: 29.7.1914: Sozialdemokratische "Unruhen" in Berlin“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/39-27> (aufgerufen am 18.04.2024)