Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Heinrich Carl Zölzer, Schulchronik von Buchenau, 1914-1919

Abschnitt 17: Rückzug der Truppen von der Westfront

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Greifen wir nun wieder zurück zu jenen Novembertagen 1918. Am 9. November brach plötzlich die Revolution aus. Die Regierung wurde gestürzt und der Kaiser sofort abgesetzt und mit ihm alle [48] deutschen Bundesfürsten. Der Kaiser und der Kronprinz1 flüchteten nach Holland. Es bildete sich die Regierung Ebert-Scheidemann-Haase2. Die bekannten sozialdemokratischen Führer nahmen die Zügel der Regierung in die Hand und machten Gesetze. Auch den Lehrern wurden manche Wünsche erfüllt. Die Lokalschulinspektion und die geistliche Kreisschulinspektion wurden aufgehoben, erstere am 1. Januar und letztere am 1. Oktober 1919. Hier alles Nähere über die großen Umwälzungen zu bringen, erübrigt sich, die Geschichte wird ja alles genau buchen. Hier auf dem Lande spürte man weniger die weltumstürzenden Ereignisse. Erwähnen will ich nur, daß sich vom ersten Augenblick der beginnenden Revolution nach russischem Muster die sogenannten Räte, Soldaten- und Arbeiterräte, konstituierten und alle Gewalt an sich nahmen. In Marburg wurde durch den Soldatenrat aller Verkehr geregelt, und die Ordnung aufrecht erhalten. Fluteten doch in den ersten Tagen der Revolution ungezügelt Mengen Soldaten dort durch, die sich zum größten Teil widerrechtlich von ihren Truppenteilen entfernt hatten, schwer beladen mit Heeresgut. Die meisten Truppen mußten zu Fuß in die Garnisonen zurückkehren. Bei diesem Rückzug wurde natürlich ganz Westdeutschland mit starker Einquartierung belegt und auch unser Kreis und unser Dorf. Die ganze 7. und 8. Armee kam hier durch und wurde freundlich empfangen und bewirtet, d. h. sie verpflegten sich selbst. Die Feldküchen, eine sehr segensreiche Einrichtung, fuhren stets vor, sobald ein Truppenteil eingerückt war, oder bei den Durchzügen wurde unterwegs haltgemacht und das gute warme Essen der Küche mundete bei oft kaltem Wetter vorzüglich. Buchenau hatte zuerst 14 Tage Wechseleinquartierung, d. h. die Truppen kamen am Abend und zogen am anderen Morgen weiter, um auf den einzelnen Stationen der Main-Weser-Bahn verladen zu werden. Danach hatten wir über vier Wochen den Stab der 227. Infanteriedivision mit Intendantur, Marketendern u. a. Der kommandierende General der 7. Armee, General von Hutier<0=Oskar von Hutier (1857-1934), General der Infanterie, seit Dezember 1917 Befehlshaber der 18. Armee an der Westfront., lag mit seinem Stabe während dieser Zeit in Biedenkopf, der Divisionsgeneral von Leyser3 bei Frau Justizrat Handschuh zu Gaste. Der Schulunterricht fiel vom [S. 49] 1. Dezember 1918 bis 12. Januar 1919 aus. In der Schule waren zuerst Waffenquartiere für die durchziehenden Truppen, später war das Geschäftszimmer der Division im 1. Lehrsaal, im 2. Lehrsaal die Marketenderei. In der Wohnung des 2. Lehrers war die Intendantur untergebracht und es ging da zu wie in einem Taubenschlag von morgens früh bis abends spät. Den Schulsaal in dem Diakonissenhaus hatte die Feldpost mit Beschlag belegt. Die Herren der Geschäftszimmer und Marketenderei, ebenfalls der Intendantur, waren sehr nette Menschen, und Schreiber dieses, in dessen Familienkreis sie verkehrten, hat mit ihnen besonders, da sie Weihnachten und Neujahr hier waren, frohe und glückliche Stunden verlebt bei Musik und Wein. Denn alle die Kriegsjahre hindurch gab es fast nichts mehr hier auf dem Lande Trinkbares als Wasser. Alkohol fehlte ganz und gar (zum Segen der Allgemeinheit), das Heer aber hatte noch ungeheuere Vorräte an Wein, Schnaps und Rauchwaren, und man konnte manches derartiges kaufen. Zuviel Heeresgut ist in diesen Tagen verloren gegangen bzw. verschleudert worden. Milliardenwerte an Heeresgut hat der Rückzug verschlungen, es ist geradezu vergeudet worden. Am schlimmsten wurde mit den Pferden gehaust, ebenso mit den Fahrzeugen. Ein Pferd konnte man für 20 M bis 50 M haben. Viele Landwirte haben sich Pferde gekauft und nach kurzer Zeit mit dem größten Gewinn verkauft. Denn ebenso rasch stiegen nachher auch die Preise der Pferde wieder.


  1. Kronprinz Wilhelm von Preußen (1882-1951).
  2. Die führenden Politer im Rat der Volksbeauftragten: Friedrich Ebert (1875-1925), Philipp Scheidemann (1865-12939), Hugo Haase (USPD, 1863-1919)
  3. Generalleutnant Hans Polycarp von Leyser (1855-1928) in der Villa Lahneck0=Villa bzw. Haus Lahneck, Gemarkung Buchenau, östlich es Orts an der heutigen B 62.

Personen: Zölzer, Heinrich Carl · Preußen, Wilhelm von · Ebert, Friedrich · Scheidemann, Philipp · Haase, Hugo · Hutier, Oskar von · Leyser, Hans Polycarp von · Handschuh, Frau
Orte: Buchenau · Biedenkopf · Villa Lahneck · Lahneck, Villa
Sachbegriffe: Novemberrevolution 1918 · Kaiser · SPD · Lehrer · Arbeiter- und Soldatenräte · Truppenrückmarsch · Fahnenflucht · Desertionen · Garnisonen · Einquartierungen · Feldküchen · Main-Weser-Bahn · 227. Infanterie-Division · Schulen · Feldpost · Weihnachten · Pferde
Empfohlene Zitierweise: „Heinrich Carl Zölzer, Schulchronik von Buchenau, 1914-1919, Abschnitt 22: Rückzug der Truppen von der Westfront“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/20-17> (aufgerufen am 19.04.2024)