Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg


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Großherzog Ernst Ludwig und Großherzogin Eleonore bei der Verabschiedung des Hessischen Landsturm-Infanterie-Regiments am Darmstädter Hauptbahnhof, 18. Nov. 1914

↑ Ernst Ludwig Großherzog von Hessen und bei Rhein, Erinnertes, 1914-1918

Abschnitt 1: Mobilmachung und Verabschiedung der Truppen

[146-147]
Wir waren in Wolfsgarten1, als der Mobilmachungsbefehl erschien, und siedelten sofort nach dem Schloß in Darmstadt über. Es war eine furchtbare Zeit der Aufregung und dabei eine Begeisterung unter der Menschheit, von der man sich keinen Begriff machen kann. Den ganzen Tag und die ganze Nacht hindurch sangen die Menschen aus vollem Halse vaterländische Lieder. Bei der Kriegserklärung war die Begeisterung einfach frenetisch. Von unserem Schlafzimmer aus (wir hatten alle Fenster wegen der Hitze auf) konnte man das Singen aus der ganzen Altstadt hören. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, diese singenden jungen Männerstimmen durch die Nacht zu hören und dabei zu wissen, sie ziehen ja alle in den Tod. Es war oft kaum auszuhalten.

Selbstverständlich gab es auch viele Auswüchse, so zum Beispiel die Suche nach russischen Spionen. Wir hatten viele russische Studenten in Darmstadt gehabt, die schon früher entweder zurückgerufen oder abberufen worden waren. Nun ging die Jagd plötzlich los; jeder Einwohner fühlte sich verpflichtet zu suchen. Es gab unangenehme und komische Szenen. So wurden einmal zwei katholische Barmherzige Schwestern auf der Rheinstraße festgehalten, und man zog ihnen die Kleider hoch weil man glaubte, daß die eine zu große Füße für eine Frau hätte. Die Armen müssen eine furchtbare Angst ausgestanden haben.

Für mich war es besonders hart, von nun an ganz von meinen Geschwistern und nächsten Verwandten auf unbestimmte Zeit abgeschnitten zu sein. Das wurde auch noch schwerer, als die schlimmen Botschaften aus Rußland2 allmählich durchsickerten und man nicht wußte, ob ihnen überhaupt Glauben zu schenken sei oder nicht.

Die härteste Zeit für uns [war] das Abschiednehmen von allen Regimentern. Wir fuhren kreuz und quer durch das ganze Land, oft auf den Straßen angehalten, denn es war eine allgemeine hysterische Suche nach sog. russischen Autos im Gange, die Gold aus Frankreich nach Rußland durch Deutschland befördern sollten. Ich habe nie erfahren können, ob etwas an der ganzen Sache wahr gewesen ist. Überall in den Standorten der Regimenter war die Begeisterung eine erhebende, wenn auch dabei viel geweint wurde. Außer all den Bekannten in den Regimentern sah man viele neu eingereihte Gesichter von nahen guten Bekannten, auch Söhne von Freunden, frühere Diener etc. Und alle wollten einen noch sprechen, wenn es möglich war. Zuerst marschierten unsere beiden Dragoner-Regimenter3 aus. Da hörten wir zum ersten Mal das alte „Muß i denn”, und es schnürte uns den Hals und das Herz zusammen, als die Regimenter bei diesem Lied, als sie ihre Standarten im Schloß abgeholt hatten, aus dem Schloß die Rheinstraße hinunter nach dem Bahnhof marschierten. Beim Einladen [S. 147] waren wir natürlich auch dort, wie beim Einladen aller in Darmstadt garnisonierten Regimenter. Noch ein besonders schwerer Moment war, als wir mit den Kindern Abschied vom lieben alten Leibgarderegiment nahmen. Es hatte im Herrngarten Aufstellung genommen und marschierte dann von dort ab4. Ich rückte erst später ins Feld, nachdem schon alle Truppen fort waren.


  1. Schloss Wolfsgarten bei Langen, Kreis Offenbach, die Sommerresidenz der großherzoglichen Familie.
  2. Zarin Alexandra (Alice) war die Schwester des Großherzogs. Mit ihrem Mann, Zar Nikolaus II., und ihren 5 Kindern stand sie seit der Februarrevolution von 1917 unter Hausarrest. In der Nacht zum 17. Juli 1918 wurde die Zarenfamilie in Jekaterinburg von Bolschewiken ermordet.
  3. Das Garde-Dragoner-Regiment Nr. 23 und das Leib-Dragoner-Regiment (2. Großherzoglich Hessisches) Nr. 24
  4. Anm. 179 (E.G.Franz): Zu dem auch in zeitgenössischen Fotos dokumentierten Auszug der hessischen Truppen in den ersten August-Tagen 1914 vgl. auch die Anfangsseiten in Ernst Ludwigs am 1. August 1914 begonnenen Kriegstagebuch, StAD D 24 Nr. 32/6; das Tagebuch notiert auch die allgemeine Aufregung, in einem fort Russenhetzen und Spionenfangen, ekelig und unwürdig.

Personen: Ernst Ludwig, Hessen und bei Rhein, Großherzog · Alexandra, Rußland, Zarin · Nikolai, Russland, Zar
Orte: Wolfsgarten, Schloss · Darmstadt · Russland · Frankreich · Jekaterinburg
Sachbegriffe: Mobilmachung · Patriotismus · Kriegsbegeisterung · Augusterlebnis · Spione · Spionenfurcht · Russen · Studenten · Barmherzige Schwestern · Straßensperren · Standarten · Februarrevolution 1917, Russland · Zarenfamilie · Bolschewiken · Garde-Dragoner-Regiment Nr. 23 · Leib-Dragoner-Regiment Nr. 24 · Dragoner-Regiment Nr. 23 · Dragoner-Regiment Nr. 24
Empfohlene Zitierweise: „Ernst Ludwig Großherzog von Hessen und bei Rhein, Erinnertes, 1914-1918, Abschnitt 1: Mobilmachung und Verabschiedung der Truppen“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/18-1> (aufgerufen am 29.03.2024)