Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Frieda Zölzer, Die Mobilmachung und die ersten Kriegswochen in Buchenau, 1914

Abschnitt 1: Tage vor der Mobilmachung in Buchenau, Ende Juli 1914

[Sp. 271-272]
Mit großer Spannung war man auch in unserem Dorf den politischen Ereignissen der letzten Julitage 1914 gefolgt. Die Bevölkerung lebte nur noch in der einzigen Erwartung: Wie wird es ausgehen? Wird es unserm Kaiser noch in letzter Stunde möglich sein, den furchtbaren Weltkrieg, der [Sp. 272] ohne unsre Schuld1 an allen Ecken und Enden droht, abzuwenden? Dazwischen mehrten sich auch hier die Stimmen, welche sagten: nein, es läßt sich nicht umgehen, wir können und dürfen uns die frechen Herausforderungen unserer Nachbarn nicht mehr gefallen lassen; über kurz oder lang geht es doch los, und lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende. Es waren unsere gedienten Leute, die so sprachen, so schwer es ihnen damals sein mochte, als die Ernte vor der Türe stand, und man aller fleißigen Hände bedurfte, um den reichen Gottessegen zu bergen.

Herr Leutnant Herzberg, unser Jagdpächter, eine bekannte und beliebte Persönlichkeit in unserm Dorf, hatte bei seiner Ankunft verlauten lassen, daß große Dinge bevorständen. Er war eigens über Wiesbaden gereist, um bei seinem dort lebenden Vater seine Kriegsausrüstung zu vervollständigen, da er als Reserveoffizier dort sofort dem Ruf des Kaisers folgen mußte. Am 30. Juli munkelte man auch schon von Mobilmachung, und Herr Leutnant, der fortwährend in telephonischer Verbindung mit Wiesbaden stand, war ganz begeistert und brachte das ganze Dorf in Aufruhr. Die Post wurde förmlich belagert. Um die ankommenden Zeitungen riß man sich. Am Abend des selbigen Tags hatte sich Herr Leutnant den Kriegerverein – dessen Ehrenmitglied er ist – eingeladen, um vor dem vielleicht bevorstehenden Abschied noch einige Stunden mit Kameraden zu verleben. Nie war eine Kriegervereinsversammlung so stark besucht als an jenem Abend! Jeder fühlte, obwohl noch keine endgültige Entscheidung da war, den tiefen Ernst der Lage. Das ganze Verhalten der Versammlung trug dieses Gepräge. Patriotische Reden wurden gehalten und mit Begeisterung sang man die schönen Vaterlandslieder. Erst in vorgerückter Stunde ging die Versammlung auseinander.

Der folgende Tag, ein Freitag, verlief im ganzen ruhig. Man ging seiner gewöhnlichen Arbeit nach. Nebenbei studierte man eifrigst die Zeitungen. Aber schon wiesen die Züge einen eigenartigen Verkehr auf. Man merkte, daß die Luft nicht rein war. An den Fernstern der Eisenbahnwagen sag man zahlreiche Sommerfrischler und Reisende, aber man erblickte auch viel Uniform. Ernteurlauber und Reserveoffiziere eilten in ihre Garnisonen. Trotz allem wußte man nichts Bestimmtes. Das Hangen und Bangen dauerte noch eine Nacht und einen Tag.


  1. Im Druck sind die Worte „ohne unsre Schuld“ gesperrt gedruckt.

Personen: Herzberg, Leutnant · Zölzer, Frieda
Orte: Wiesbaden · Buchenau
Sachbegriffe: Erntearbeiten · Reserveoffiziere · Mobilmachung · Kriegsbegeisterung · Zeitungen · Kriegervereine · Zugverkehr · Garnisonen
Empfohlene Zitierweise: „Frieda Zölzer, Die Mobilmachung und die ersten Kriegswochen in Buchenau, 1914, Abschnitt 17: Tage vor der Mobilmachung in Buchenau, Ende Juli 1914“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/4-1> (aufgerufen am 18.04.2024)