Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914

Abschnitt 9: Weiterfahrt durch Belgien

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Noch einmal kurze Rast bei warmem Mahl auf deutschem Boden, und wir verließen unser Vaterland. Kaum eine Stunde fuhren wir so durch das neutrale Großherzogtum, dann wurde die belgische Grenze erreicht und in Gourg1 hielten wir zum erstenmal in Feindesland. Bayrischer Landsturm hielt hier und weiter längs der Bahn Wacht. Bald empfingen wir die ersten Eindrücke vom Krieg, der hierdurch seinen Weg genommen. Aufgerissene Wege, umgestürzte Eisenbahnwagen, gesprengte Brücken, zerschossene Häuser und ganze ausgebrannte Straßenzüge. Besonders schaurig sah es in Bastogne2 aus, einem Städtchen, in dem unser Zug einigen Aufenthalt nahm. Hier war es auch, wo wir zum ersten Male mit der Bevölkerung in nähere Berührung kamen. Allenthalben drängten sich Kinder und schmutzige Weiber an uns heran, um uns Zigaretten usw. zu verkaufen. Drüben längs des Bahnschutzes standen sie zahlreicher und sahen auf uns lauernd, verschlagen. . . . Und weiter flog der Zug mit uns dahin durchs dämmernde Land, schwer lastend lag Regennebel rings um Hügel und Wald und niedrige Berge. Vorbei an all den wachthabenden Landsturmleuten mit fröhlichem Hurra! vorbei an ihren Hütten mit all den klingenden Namen wie „Villa zum Deutschen Kaiser" usw. mit den riesigen Lettern darüber: „Werft Zeitungen ab!" oder „Wer hat eine Wolljacke über?" vorbei an den einsamen belgischen Bahnwärterhäuschen, wo jetzt die einsame Frau den Dienst versieht; das Kind auf dem Arm, das andere hängt ihr am Kleid, so steht sie an der Schranke mit bleichem, verhärmtem Gesicht, und sieht die Tausend und Abertausend deutschen Krieger vorüberziehen — und denkt ihres Gatten — wo mag der weilen? Kämpft er den letzten Kampf drunten am Meere nach Antwerpens Fall, ist er gefangen, dort, wo all die Tausende herkommen, liegt er gar still und bleich irgendwo?

Vorüber, vorüber! Aber lange noch und bis zu dieser Stunde habe ich das Bild bei jenem einsamen belgischen Bahnwärterhause vor Augen. . . . Kurz vor Nacht noch einmal lustige Zwiesprache mit humorvollen Berliner Landwehrleuten, die hier in Libramont3 ein großes Munitionslager des Gardekorps hielten, und wir legten uns schlecht und recht in unserm strohgepolsterten Viehwagen zur Ruhe. Kaum eingeschlafen, wurden wir jedoch wieder geweckt und irgendwo — ich habe den Namen des Ortes nicht mehr in Erinnerung — von deutschen Etappentruppen warm gespeist. Vielleicht, daß ich von der Kälte geweckt worden bin; als ich aus der Luke unseres Wagens sah, bot sich mir ein herrliches Bild, so daß ich schnell die Kameraden weckte, obwohl es erst 3 Uhr morgens war. Unter uns rauschte die Maas in weißgrauen Nebelschwaden, und grausigschön ragten die Pfeiler der gesprengten Brücke in die Nacht auf, die der Mond mit fahlem Lichte hellte. In tiefem Schlummer Namur4 und rings im Dunkel auf steilem Fels die zerschossene Feste. Einen tiefen Eindruck hat's auf uns gemacht. Ich ahnte damals nicht, wie bald ich wieder hier vorbei kommen würde. Am 14. Oktober [14.10.1914], morgens etwa ¼ 10 Uhr fuhren wir in den Bahnhof von Charleroi5 ein. Charleroi, ein belgisches Essen und die ganze Gegend ein belgisches Ruhrgebiet! Hohe Aschen- und Schlackenberge, neben denen die ragenden, rauchgeschwärzten Schlote und Hochöfen fast verschwinden. Fabrik an Fabrik, aber alle öde und leer, wo nicht gesprengt und zerschossen in den erbitterten Kämpfen, die vor nicht langer Zeit hier getobt. Überall arbeitslose Industriebevölkerung, schwarzhaarige Wallonen, klein [S. 266] und beinahe degeneriert; nur auf den Aschebergen herrscht Leben, wo Weiber und Männer, alles in Hosen gekleidet, nach Kohlen usw. sucht.

Immer langsamer wurde unser Fahrtempo, und oft hielten wir ohne offensichtlichen Grund auf offener Strecke. Alles uns zunächst unverständliche Anzeichen, daß die Eisenbahnfahrt bald ein Ende haben würde. Wir stellten, nachdem wir die Abzweigung nach Antwerpen vermieden hatten, die wundersamsten Betrachtungen an, welches wohl unser endliches Ziel sein würde, und einigten uns mehr und mehr auf Dünkirchen, was auch der Wahrheit am nächsten kam.


  1. So im Druck. Es muss sich jedoch um den belgischen Ort Gouvy nahe der luxemburgischen Grenze (zwischen St. Vith und Bastogne) handeln.
  2. Belgische Kleinstadt in der Provinz Luxembourg an der Grenze zu Luxemburg.
  3. Heute Libramont-Chevigny, in der belgischen Provinz Luxembourg.
  4. Belgische Stadt an der Maas, östlich von Charleroi.
  5. Charleroi, belgische Stadt südlich von Brüssel.

Personen: Weidemann, Wilhelm
Orte: Luxemburg · Belgien · Gouvy · Antwerpen · Libramont · Maas · Namur · Charleroi · Dünkirchen
Sachbegriffe: Landsturm · Zeitungen · Bahnwärterhäuser · Landwehr · Gardekorps · Munitionslager · Montanreviere · Hüttenwerke · Arbeitslose · Wallonen
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914, Abschnitt 19: Weiterfahrt durch Belgien“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/138-9> (aufgerufen am 18.04.2024)