Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914

Abschnitt 4: Auswahl für das Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 83

[252-253]

G.C. Dann eines Nachmittags: Hauptmann v. S., dem das erste Rekrutendepot unterstellt war, gab uns bekannt, daß er aus den 700 Mann ungefähr 150 auswählen müsse, die als besonders geeignet zu einem jetzt gegründeten Reserve-Infanterie Regiment Nr. ... übertreten sollten, um unter seiner Führung nach weiterer Einstellung von Landwehrleuten eine kriegsstarke Kompagnie desselben Regimentes abzugeben. Das Regiment werde in kurzer Zeit ausrücken und wohl in Rußland Verwendung finden.

Die Kräftigsten wurden ausgesucht unter uns, um dem Hauptmann vorgestellt zu werden. Ich befand mich unter denen, nahm aber Gelegenheit, wieder den Zurückbleibenden beizutreten, weil ich gern bei meinen Freunden und Bekannten bleiben wollte, um so mehr, als ich hörte, daß der Rest gegen Frankreich ziehen sollte und ich gemäß dem allen bodenständigen Deutschen des alten Landes gegen den Erbfeind zu streiten größeren Eifer hegte. Doch es kam anders und nicht zu Schaden! Unser Hauptmann, nicht ganz zufrieden mit den ihm Vorgestellten, ging suchend und prüfend durch die Reihen der Zurückgebliebenen und schon stand er vor mir. „Wie heißen Sie?" — Ich antwortete. „Sie wollen wohl hierbleiben?" — Ich wagte bescheiden zu erwähnen, daß ich gern bei meinen persönlichen Freunden bliebe. — „Ja, eine so schöne Freundschaft aber — und er griff mir über die Arme — Sie sind so kräftig - was sind Sie von Beruf?" — Stud. hist. — „Na, da müssen Sie doch die Geschichte des Ostkrieges zu schreiben begierig sein!" Und damit war ich ... er1, und damit begann unser Hauptmann Interesse an mir zu finden.

In den Tagen war's auch, wo wir eines Morgens feierlich auf dem weiten Kasernenhof der 83 er zusammentraten und die Hände erhoben zum Schwur der Treue; auf blitzenden Degen haben wir, da die Fahnen draußen vor dem Feinde wehten, unserm Kaiser und Könige bei Gott, dem Allmächtigen, den Fahneneid geleistet, den alten preußischen Fahneneid, der uns zu der Stunde so besonders heilig geklungen hat. Wo draußen Sieg auf Sieg errungen ward von unsern Brüdern, während wir noch harren mußten der Stunde, das durch die Tat zu bewähren, was hier der Mund in heiligem Schwur gelobt. Wo des Krieges Herrlichkeit und der deutschen Waffen Stärke unsere Herzen höher schlagen ließ und wo des Krieges Weh und Unerbittlichkeit uns allen näher zu treten begann. Belgiens starke Feste, Lüttich, fiel im ersten Sturm des siebenten Augusttages [7.8.1914], und ach, derselbe Siegestag sah meinen Freund, den besten, treuesten wohl von allen, den Heldentod fürs Vaterland sterben. Beim Sturm auf die Feste fiel er an der Spitze seiner Kameraden, mein lieber Freund G. L., Leutnant des 3. Bat. des Inf.- Rgts. v. Wittich (3. kurhess.) Nr. 832.

Das erste Bataillon des Reserve-Infanterie- Regiments Nr. ...3, dessen 3. Kompagnie ich angehörte, wurde in der letzten Augustwoche nach Kassel-Wilhelmshöhe und Wahlershausen in Quartier gelegt. Ich entschloß mich, obwohl ich hätte zu Hause wohnen können wie zuvor, einen Quartierzettel zu empfangen. Auf der Suche nun nach meiner Unterkunft, die ich dann übrigens von einem Unteroffizier der 4. Kompagnie belegt fand, rief in der Kaiser-Friedrich-Straße eine Dame vom Balkon ihrer Wohnung, ich sollte bei ihr Aufnahme haben. Ich machte von dem freundlichen Anerbieten Gebrauch und geriet damit in Gesellschaft von zwei Landwehrleuten und einem Reserve-Sanitätsunteroffizier. Unsere Quartierwirtin war Frau Oberlandesgerichtsrat M. Obwohl nur durch entferntere Verwandte an dem Kriege beteiligt, gehörte sie doch zu den Leuten, die mit aller Macht bestrebt waren, mit solchen, die in den vordersten [S. 253] Reihen stehen, Fühlung zu nehmen. Und wie die Frau Rat in der Heimat für unser leibliches und geistiges Wohl sorgte — ihre kurzen Morgenandachten gehören mir zu den schönen und nachhaltigen Erinnerungen —, so hat sie's später noch eifriger getan, als wir vor dem Feind standen. Bis auf diese Stunde steht sie im regsten Verkehr mit ihren „Kindern" und nimmt an dem Teil, was sie dort draußen erleben, und hilft ihnen mit ihrem echten Christenwesen über manchen Abgrund, den des Krieges Schrecken und Nöte vor mehr denn einer Seele auftun. Wir alle werden unsere Wirtin niemals vergessen! Daß doch recht viele solcher Quartiergeberinnen vorhanden wären!


  1. D.h. 83 er, Angehöriger des Infanterie-Regiments Nr. 83 bzw. des Reserve-Infanterie-Regiments Nr. 83.
  2. Es handelte sich um Leutnant Günther Leis, gefallen am 6.8.1914 vor Lüttich. Siehe: Ernst Bach, Regiment 83 sturmerprobt. Kriegserinnerungen und Frontgedanken, 1930, S. 242.
  3. Es ist nicht ersichtlich, warum hier die Regimentsnummer 83 weggelassen wird.

Personen: Weidemann, Wilhelm · Leis, Günther
Orte: Kassel · Russland · Frankreich · Belgien · Lüttich · Kassel-Wilhelmshöhe · Wahlershausen · Dönche
Sachbegriffe: Kriegsfreiwillige · Kasernen · Hauptleute · Infanterie-Regiment „von Wittich“ (3. Kurhessisches) Nr. 83 · Infanterie-Regiment Nr. 83 · Fahneneid · Degen · Bürgerquartiere · Quartierzettel · Landwehr · Sanitäter · Leutnante · Gefallene
Empfohlene Zitierweise: „Wilhelm Weidemann, Aus dem Tagebuche eines Kasseler Kriegsfreiwilligen, 1914, Abschnitt 18: Auswahl für das Reserve-Infanterie-Regiment Nr. 83“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/138-4> (aufgerufen am 29.03.2024)