Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Karl Bickel, Kriegspredigt in der Marktkirche zu Wiesbaden, 1915

Abschnitt 6: Gegen Hurrapatriotismus und Kosmopolitismus

[11-13]
Unser Patriotismus darf aber auch kein Strohfeuer sein, das schnell aufflackert, aber auch ebenso schnell wieder erlischt. Auch kein phrasenhafter "Hurrapatriotismus", wie er so gern im Wirtshaus und bei festlichen Gelagen in hohen Worten über Kaiser und Reich, über Freiheit und Fortschritt und Volkswohl sich hervor tut, aber wenn es gilt, ein wirkliches Opfer für das Vaterland zu bringen, gar kläglich versagt und wie in der Familie, so auch in Gemeinde und Staat die Selbstsucht, Engherzigkeit und Philisterhaftigkeit nicht zu überwinden vermag. Noch weniger verträgt sich mit deutsch-vaterländischer Gesinnung der seelen- und charakterlose Kosmopolitismus, jenes Weltbürgertum, das die Vaterlandsliebe für etwas Engherziges und ein Zeichen geistiger Beschränktheit ansieht, dessen Wahlspruch es ist: "ubi bene ibi patria", das heißt auf deutsch: "Wo dir's wohlgeht, da ist dein Vaterland". Wie mancher Deutsche, der im Ausland sich eine Existenz gegründet und eine zweite Heimat gefunden, ist so seinem angestammten Vaterlande [S. 12] schon untreu geworden! Ebenso entspricht es nicht einer in tiefer Religiosität wurzelnden Vaterlandsliebe und ist kein gesundes Verhältnis, vielmehr ein Schaden und Hemmschuh für unsere nationale Entwickelung, wenn unsere Gemeindevertreter, Staatsbeamte, Politiker und Parlamentarier um Religion und Kirche sich nicht kümmern oder gar dagegen ablehnend verhalten. Auch hier heißt's: ..Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden." Religion und Patriotismus, Deutschtum und Christentum gehören zusammen, jenes muß in diesem seine Kraft und Weihe, dieses in jenem seine praktische Bewährung finden. Ohne seinen Gott ist der Deutsche ein elender Geselle, aber im Bunde mit seinem Gott überwindet er die Welt und hat Tod und Teufel nicht zu fürchten.

Wie aber, meine Freunde, steht es mit unserer Vaterlandsliebe? Kannst auch du in Wahrheit mit dem Sänger sprechen:

Ich hab mich ergeben mit Herz und mit Hand, dir Land voll Lieb und Leben mein teures Vaterland! Hat das "Vaterland" in diesem Riesenkampf, der jetzt die Welt durchtobt, auch für dich und für dich, ja für uns alle einen neuen, tieferen Sinn und Klang bekommen? Hat der Krieg auch uns innerlich aufgerüttelt und uns hinausgehoben über uns selbst in ein gesteigertes und intensiveres Leben? Haben auch wir uns mit Leib und Seele verschworen, alles undeutsche und unchristliche Wesen abzuwerfen, das sich bei uns eingeschlichen hat und jedes Opfer, das die Not des Vaterlandes von uns fordert, gern zu bringen — in dem großen Bewußtsein, daß der Einzelne nur ein Glied des Ganzen ist und in dieser gewaltigen Zeit alle selbstischen Wünsche und persönlichen Interessen untergehen müssen in der Liebe zum [S. 13] gemeinsamen Vaterland? Oder gibt es auch unter uns noch Deutsche, die von solcher Vaterlandsliebe nichts wissen wollen, sondern in schnöder Selbstsucht nur an sich, an ihr Behagen und ihren Vorteil denken? Ja, Gott sei's geklagt. Während so viele unter einer überwältigenden inneren Nötigung zu sich selbst und ihrem Gott gekommen, ernster, tiefer, besser, frommer geworden und voll Opfergeist für's Vaterland, gibt es doch immer noch so manche, die unberührt von dem Ernst der Zeit, von der Not des Krieges und den furchtbaren Opfern, die er fordert, in ihrem alten oberflächlichen Wesen und öden Treiben beharren. Wahrlich, gar armselige und bedauernswerte Menschen, die in dieser großen Zeit klein bleiben, die, während unsere Soldaten draußen im Feld ihr Leben einsetzen für's Vaterland und ihre Angehörigen daheim ihr Liebstes lassen müssen, auch jetzt noch nichts spüren von dem Wehen des göttlichen Geistes, auch jetzt noch nicht merken, daß eine große, vielleicht die größte Schicksalsstunde für unser Volk und Vaterland geschlagen hat! Oder macht sich vielleicht bei anderen schon ein bedenkliches Sinken der Temperatur geltend? Ist ihnen der Krieg so auf die Nerven gefallen, daß sie müde und kleingläubig geworden? Oder haben sie sich schon so an den Krieg gewöhnt, schon so gegen ihn abgestumpft, daß sie das Gefühl für das Ungeheuere dieses deutschen Existenzkampfes, den Blick für die Größe dieser Zeit und die gewaltigen Leistungen unserer Armeen verloren haben und schon wieder anfangen, ihrem altgewohnten Treiben sich hinzugeben, als ob kein Krieg wäre?


Personen: Bickel, Karl
Orte: Wiesbaden
Sachbegriffe: Vaterlandsliebe · Patriotismus · Nationalismus · Kriegspredigten
Empfohlene Zitierweise: „Karl Bickel, Kriegspredigt in der Marktkirche zu Wiesbaden, 1915, Abschnitt 6: Gegen Hurrapatriotismus und Kosmopolitismus“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/133-6> (aufgerufen am 25.04.2024)