Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Karl Bickel, Kriegspredigt in der Marktkirche zu Wiesbaden, 1915

Abschnitt 5: Falsche Vaterlandsliebe und begründeter Hass

[9-11]
Allerdings gibt es auch eine falsche Vaterlandsliebe. Wie es schwache Eltern gibt, die eine wahre Affenliebe zu ihren Kindern haben, indem sie blind gegen deren Unarten und Fehler sind, vielleicht dieselben gar noch loben, so gibt es auch eine Vaterlandsliebe, die in nationalem Egoismus und Dünkel die Augen verschließt gegen fremde Eigenart und nicht den Mut hat, die Schwächen und Gebrechen, die Sünden und Laster des eigenen Volkes zu bekämpfen. Wie nahe aber wahre und falsche Vaterlandsliebe beieinander sein können und wie leicht die eine in die andere Umschlägen kann, ersehen wir aus unserem Psalm, dem wir die von edlem nationalem Empfinden zeugenden Worte entnommen haben: "Vergesse ich deiner, Jerusalem, so werde meiner Rechten vergessen. Meine Zunge soll an meinem Gaumen kleben, wo ich deiner nicht gedenke, wo ich nicht lasse Jerusalem meine höchste Freude sein", und der mit dem entsetzlichen [S. 10] Ausbruch des Hasses und des Rachegefühls gegen die Feinde Jerusalems schließt: "Wohl dem, der dir, du Tochter Babels, vergilt, was du uns getan! Wohl dem der deine kleinen Kinder nimmt und sie zerschmettert am Felsen!" Das ist die Sprache der falschen Vaterlandsliebe, die vor keiner Grausamkeit zurückschreckt. Und wie sehr eine solche rachgierige Vaterlandsliebe einem Volke alle Besonnenheit und Selbstbeherrschung, ja jedes Gefühl für Menschlichkeit rauben kann, das haben uns die in Belgien an unseren verwundeten Soldaten verübten Greueltaten gezeigt, ganz zu schweigen von der allem Völkerrecht Hohn sprechenden Art, wie Rußland, Frankreich und England in ihrem sinnlosen Deutschenhaß Krieg gegen uns führen. Da kann es uns wahrlich nicht Wunder nehmen, wenn sich unter solchen Verhältnissen in unserem Volke eine tiefe sittliche Entrüstung, ein heiliger Zorn und Haß gegen die Verlogenheit, Bosheit und Niedertracht unserer Feinde und insbesondere gegen England, "das alte christliche Volk der Heidenmission und der Bibelgesellschaften", Luft macht. Gleichwohl kann ich mich mit dem gehässigen Gruß: "Gott strafe England!" und seiner Antwort: "Er strafe es!" nicht befreunden. Wohl hat auch der Haß seine sittliche Berechtigung, wenn er nicht persönlich ist. So schreibt Paulus im Römerbrief (12, 9): "Hasset das Arge!" Und daß ein solcher Haß und Zorn auch unserem Heiland nicht fremd gewesen ist, sagt uns die Geschichte von der Tempelreinigung (Lc. 19, 45 f.), wo uns erzählt wird, daß Jesus in heiliger Entrüstung über den jüdischen Krämersinn, der den Tempel entweihte, mit der Geißel die Krämer aus dem Heiligtum getrieben habe. Und wenn in unserer Zeit englischer Krämergeist und Krämerneid in der frevelhaftesten Weise die Brandfackel in den Friedenstempel der Welt geworfen und einen Vernichtungskrieg gegen das deutsche Reich und alles, was unserem Volke heilig [S. 11] ist, angezettelt hat, da sollten wir nicht auch in heiligem Zorn und Haß entbrennen? L. Fr. Es wäre geradezu Verrat an unserem Vaterland, wenn wir diesen bösen, wahrhaft satanischen Geist, der seit Jahren in dem englischen Volk gegen Deutschland geflissentlich genährt worden ist und der die Seele der englischen Politik bildet, nicht bis aufs Blut bekämpfen wollten. Doch auch dem englischen Volke gegenüber darf unser Haß nicht persönlich und nicht das allerletzte Wort sein. Auch unseren Feinden gegenüber dürfen wir unser deutsch-christliches Wesen nicht verleugnen, und müssen ihnen zeigen, daß wir nicht "die Barbaren" sind, als die sie uns in der ganzen Welt verleumden und daß wir nur um des Friedens willen Krieg führen und darum im Grunde genommen nicht nur gegen sie, sondern auch für sie kämpfen.


Personen: Bickel, Karl
Orte: Wiesbaden · Belgien · Frankreich · England · Russland
Sachbegriffe: Kriegspredigten · Patriotismus · Nationalismus · Vaterlandsliebe · Kriegsgräuel
Empfohlene Zitierweise: „Karl Bickel, Kriegspredigt in der Marktkirche zu Wiesbaden, 1915, Abschnitt 4: Falsche Vaterlandsliebe und begründeter Hass“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/133-5> (aufgerufen am 28.03.2024)