Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Karl Bickel, Kriegspredigt in der Marktkirche zu Wiesbaden, 1915

Abschnitt 1: Christentum und Vaterlandsliebe

[3]
Ps. 137, 5 und 6: Vergesse ich dein, Jerusalem, so werde meiner Rechten vergessen. Meine Zunge soll an meinem Gaumen kleben, wo ich dein nicht gedenke, wo ich nicht lasse Jerusalem meine höchste Freude sein.

Liebe Gemeinde!

Man begegnet bisweilen hier und da noch immer der Behauptung, daß uns das Evangelium, weil es sich vor allem mit himmlischen Dingen beschäftige, gegen die irdischen Dinge und Interessen gleichgültig mache, daß somit ein überzeugter Christ, der mit dem Apostel bekenne: "Unser Wandel" oder — wie es genauer nach dem Grundtext heißt — : "Unser Bürgerrecht ist im Himmel" (Phil. 3, 20), nicht auch ein guter Staatsbürger und Patriot sein könne. Törichtes Gerede. Mag immerhin eine einseitige pietistische Frömmigkeit sich zu Zeiten gegen die weltlichen Dinge ablehnend verhalten und auch von den Pflichten gegen Staat und Vaterland gering geurteilt haben: dem Evangelium Jesu ist eine solche weltflüchtige, ungesunde Frömmigkeit fremd. Wer auch nur einigermaßen mit der Bibel und insonderheit mit dem Neuen Testament bekannt ist, der weiß auch, daß dem Evangelium nichts Menschliches fremd ist, daß es sauerteigartig das ganze menschliche Leben mit dem Geiste Christi durchdringen, weihen und verklären, nicht bloß kirchlich gläubige Menschen, sondern auch pflichttreue und liebevolle Familienglieder, gewissenhafte Berufsleute, ehrliche und opferfreudige Bürger des Vaterlandes heranbilden will. So gibt unser Katechismus den Kindern in der Schule auf die Frage: "Wie verhält sich der Christ im bürgerlichen Leben?" die Antwort: "Der Christ liebt sein Volk und Vaterland, ist treu seinem [S. 4] Fürsten, gehorsam der Obrigkeit und ihren Gesehen, sucht in treuer Erfüllung seines Berufs das allgemeine Wohl nach Kräften zu fördern und ist bereit, selbst Gut und Leben für das Vaterland zu opfern". Und wenn noch etwas uns lehren kann, wie eng Christentum und Vaterlandsliebe miteinander Zusammenhängen, wie innig unser persönliches Geschick mit dem unseres Vaterlandes verknüpft ist, dann ist es der furchtbare Krieg, den zurzeit unser Volk notgedrungen für seine nationale Existenz und Zukunft führen muß. Da ist es doch uns allen blitzartig zum Bewußtsein gekommen, was wir an unserem Vaterland haben, da war es uns, als ob Gott selbst uns in diesem furchtbaren Geschick durch den Mund unseres Dichters zuriefe:

Die angeborenen Bande halte fest,
Ans Vaterland, ans teure schließ dich an,
Das halte fest mit deinem ganzen Herzen.
Hier sind die starken Wurzeln deiner Kraft!


Personen: Bickel, Karl
Orte: Wiesbaden
Sachbegriffe: Kriegspredigten · Patriotismus · Nationalismus
Empfohlene Zitierweise: „Karl Bickel, Kriegspredigt in der Marktkirche zu Wiesbaden, 1915, Abschnitt 1: Christentum und Vaterlandsliebe“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/133-1> (aufgerufen am 25.04.2024)