Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg


Inhalt

  1. Mühevoller Aufmarsch durch Belgien
  2. Ankunft in Löwen, erste Siegesmeldungen

Abbildungen

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Handschriftliche Reinschrift des Textes "Der Auftakt" von Ludwig Grebe, S. 1

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Handschriftliche Reinschrift des Textes "Der Auftakt" von Ludwig Grebe, S. 2

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Handschriftliche Reinschrift des Textes "Der Auftakt" von Ludwig Grebe, S. 3

↑ Ludwig Grebe, Der Aufmarsch in Belgien, 1914

Abschnitt 1: Mühevoller Aufmarsch durch Belgien

[Sp. 261-262]
Der Auftakt.

Marschskizze von Ludwig Grebe z. Zt. Nordfrankreich1.

Ein schwerer Tag. Die Sonne, die seit Tagen und Wochen ihre beste Seite gezeigt hat, brennt heiß hernieder, fast unerträglich stechend. Ihre wohlmeinenden Strahlen lechzen begierig nach jedem Fleckchen Erdenfeuchtigkeit. Es scheint, als wolle die alte fürsorgliche Erdenmutter heute alles Leben verdorrend umkommen lassen. Leblos und welk Baum und Gewächs ringsum! Nur trockene Totenstille in der Natur. Bleierne Schwere füllt die Atmosphäre. Da unterbrechen dumpfe, ernste Töne die drückende Stille. Schritte im Marschtempo sind es; eintönig und bescheiden sind sie; lastend suchen sie harmonische Verbindung mit dem wehmütig leblosen, spätsommerlichen Naturbild. Die Schritte ertönen näher, fester. — Da zieht sie nun vorbei, die 1. Gefechtsstaffel, gebildet aus Munitions-, Artillerie-, Sanitäts- und Bäckereikolonnen. Da marschieren, fahren und reiten sie in Eilschritten hin; Männer aus Hessen-Nassaus und Thüringens schönen Gauen. Stumm, in sich gekehrt, ziehen sie vorbei, die lange, unendlich lange Straße entlang dem unbekannten Ziele zu. Pfeife und Mundharmonika sind längst verstummt und auch die Spaßmacher sind schweigend geworden. „Keinen Tropfen im Becher mehr" . . . Der Flügelmann im vierten Gliede, ein schwarzes lustiges Kerlchen aus dem Biedenkopfer Ländchen, zitiert, aber der Sang klingt schrill wie Tone aus einer rissigen Glocke. Staub wirbelt auf; die ganze Straße ist eine Staubwolke. Schlürfend hacken Mann und Roß in das weiche Mehl der Straße. Gesichter und Kleider sind in Staub und Schweiß gebadet. Das sind keine Menschen mehr, die dort hinwandern, das sind wandelnde Staubballen. Kein Ton, kein Kommando! Nur ab und zu ein leiser, müder Augenaufschlag, ein sehnsüchtiger Blick in die Ferne gerichtet. Als ob dort das Ziel zu sehen wäre! Enttäuscht senken sich die Augen wieder. Ein Ziel gibt es noch nicht; kein Haus, kein Dorf, kein Wasser in Sicht. Wasser, Wasser, verlangt der Körper. Der Durst wird fast unerträglich; die Lippen brennen; den Gaumen umzieht eine klebrige lästige Schleimschicht. Der ganze Körper gleicht nur noch einer überlasteten, toten Maschine, die willenlos tut, was von ihr verlangt wird. Mechanisch wie unter ständigem Befehl heben sich die Beine. Aber eine unsichtbare Macht ist es, die Führer, Mann und Roß vorwärts bewegt, ja vorwärts zwingt. —

Eine müde, abgearbeitete Masse! Nur das Symbol der Völkereinheit, die weiße Fahne mit dem roten Kreuz allein verrät Leben. Lustig und wohlgemut flattern die Flaggen über den Gerätewagen. Ob sie die leblose, tote Masse all ihre Pflicht mahnen möchte? Wohl nicht! Denn das ist sicher: sie alle, wie sie hier wandern, belebt das Gefühl der Pflicht, die eiserne Pflicht, den Kameraden, die in der Feuerlinie in Tod und Leid stehen, die Treue zu halten und rastlos zu ihnen zu eilen. Das wollen sie! Das müssen sie! Darum Vorwärts! Wieder sinkt der Kopf auf die müde keuchende Brust. Wie eine gefühllose Maschine [Sp. 262] schreitet der Zug dahin. Nur das Gehirn arbeitet. Die Gedanken fliegen zurück, zurück in die Heimat. Und vor das Auge treten noch einmal die Erlebnisse der letzten Zeit: Der Abschied von treuen Lieben, von Nachbar und Freund, die Ausrüstung im Garnisonort, der folgende lange Eisenbahntransport bis zur Grenze, der soviel Liebesgaben brachte und so große Begeisterung auslöste. Welch eigenartiges Gefühl war durch die Brust gezogen, als all jener buschumzäunten, finstern Uebergangsstelle die ersten scharfen Patronen in den Gewehrlauf geschoben wurden! Und mancher mochte wohl beim Betreten des feindlichen Bodens einen heißen Seufzer zum Herrn der Heerscharen gesandt haben. Grund dazu war da. Die Beschießungen der Kolonne, die Hinrichtung eines fanatischen Familienhauptes in der Nähe der Grenze, die Umschleichungen und Beschießungen der Nachtlager, brennende qualmende Dörfer mit Viehgebrüll und jammernden Menschen, gerichtete Franktireurs, Tagesmärsche von 50 Kilometer bei trockenem Brot und einem Schluck schwarzen Kaffee, keine Feldpost, keinen Anschluß an die Heimat, nicht das Geringste von der allgemeinen Lage, dieses alles zieht noch einmal mit wuchtigem Eindruck an dem Auge des Kriegers vorüber; und vorwärts geht es, unaufhaltsam vorwärts! — Schon wird der Weg zur Qual. Die Körperenergie wird auf äußerste Kraft gezwungen. Abgespanntheit auf allen Gesichtern. Hier und dort dumpfes Seufzen, jedoch kein Murren. Das Gefühl einer tonlosen Einsamkeit beschleicht das Herz. Ist das Ziel auch sicher? Wie, wenn die Kolonne in eine Sackgasse läuft? Schon seit Wochen keinen Anschluß an größere Truppenkörper, keine Verbindung mit Post und Telegraphie! Weit, weit ist man schon vorgerückt.


  1. Diese Zeile beim Druck des Textes vom Herausgeber hinzugefügt.

Personen: Grebe, Ludwig
Orte: Frankreich · Thüringen · Biedenkopf
Sachbegriffe: Munitionskolonnen · Artillerie · Sanitätskolonnen · Feldbäckereien · Tabakspfeifen · Mundharmonikas · Gewehre · Franktireurs · Kriegsgräuel · Feldpost
Empfohlene Zitierweise: „Ludwig Grebe, Der Aufmarsch in Belgien, 1914, Abschnitt 3: Mühevoller Aufmarsch durch Belgien“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/123-1> (aufgerufen am 19.04.2024)