Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg

↑ Erlebnisse des August Heep aus Biebrich in russischer Gefangenschaft, 1914-1918

Abschnitt 6: Eintreten für die Deutschen in Russland, Krankheiten

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Am 14. März hatten wir einen Unfall; ein Maschinist ging abends im Garten, wo er wohnte, spazieren um 7 Uhr. (nach 6 Uhr abends durften wir unsere Wohnung nicht mehr verlassen). Junge Rekruten, welche sich in der Nähe befanden, waren darüber aufgebracht, und warfen mit Steinen auf ihn; er flüchtete ins Haus, aber zu spät, denn ein Stein traf den Mann so unglücklich, dass ihm das rechte Auge ausgeworfen wurde. Wir verbrachten ihn sofort ins Spital. Am anderen Morgen wurde unser Ort vom Herrn Gouverneur des Gouvernements Orenburg besucht, und ich entschloss mich, eine Audienz bei ihm zu erwirken, die mir aber verweigert wurde. Trotzdem liess ich mich nicht abschrecken, drang vor und fand auch Gehör. Zuerst berichtete ich von dem Vorfall des vergangenen Tages. Herr Gouverneur bedauerte sehr den Vorfall, und versprach mir die Sache sofort zu untersuchen, und den Mann im Spital zu besuchen. Da in letzter Zeit die Einwohner gegen uns Deutsche sehr gehässig waren, und uns bedrohten, legte ich ihm auch diesen Fall vor. Herr Gouverneur Suchomilow (Bruder des Kriegsministers)1 äusserte sich, indem er wie ein Pfau sich vor mich hinstellte: "Sagen sie mal, was wollt Ihr Deutsche denn, ihr werdet hier noch viel zu gut behandelt, ihr Deutsche wollt ein kultiviertes Volk [S. 9] sein, Schweine seid ihr: Denkt einmal daran, was ihr Schweine mit meinen armen Kosaken gemacht habt. Zunge, Nase und Ohren habt ihr ihnen abgeschnitten, die Augen ausgestochen, und sonst Greueltaten an meinen armen Leuten verübt. Als ich ihn sagte, dass dies doch nicht möglich sein könnte, spie er mir ins Geeicht, und schrie mich an, ich war selbe Zeuge, und habe es gesehen mit eignen Augen, meine Frau liegt jetzt noch krank davon nieder. (Suchomilow war bei Ausbruch des Krieges in Wiesbaden zur Kur und wurde 14 Tage in Deutschland festgehalten.) Zuletzt sagte er zu mir :"Ihr kennt doch das russische Volk, warum geht ihr ihm nicht aus dem Wege ?“ Er verabschiedete sich dann von mir , und versprach noch alles zu tun, was er für uns machen könnte. Der Hass der jungen Leute erbte sich nun auch auf die alten über, und wir konnten uns kaum noch sehen lassen.

Da nun der Pope (Geistliche) bei den Russen eine grosse Macht besitzt, versuchte ich mein Glück bei ihm; am ersten Tage meines Besuches äusserte er mir, dass das Volk durch die vielen Verluste, welche in letzter Zeit zu verzeichnen waren, und durch das Fallen vieler Sohne aus dem Dorfe, gegen uns so gehässig wären. Herr Pope versprach mir zu tun, was er könne, ich stellte ihm zur Ausschmückung der Kirche 35 Rubel = 70 Mark zur Verfügung, welche er auch freundlich annahm. Am anderen Tage, es war gerade eine Beerdigung, versammelte er die Einwohner, die fast alle da waren, um sich, und machte ihnen klar, dass wir doch an all den Vorkommnissen unschuldig waren, und sie sollten uns bedauern, dass wir nicht bei unseren Angehörigen sein könnten, und nach hier geschafft worden wären, und nicht freiwillig sich bei ihnen aufhielten. Im Nu war alles wie umgedreht, man sah fröhliche Gesichter wieder, und niemand legte uns noch was in den Weg; im Gegenteil man brachte uns Brot, Milch und dergleichen. In der Zeit vom 1. März bis 1. August 1915 starben 3 Erwachsene und 19 Kinder (1 Mann an Typhus, 1 Frau an Fleischvergiftung, 1 Mann (Soldat) an der Ruhr, die Kinder starben meistens an Diphterie) welche auf dem russischen Friedhof beerdigt wurden. Auf jedes Grab, [S. 10] welches mit Steinen eingefasst wurde, liess ich ein grosses Kreuz mit Inschrift anbringen.


  1. Russischer Kriegsminister 1914 war Wladimir Alexandrowitsch Suchomlinow (1848-1926).

Personen: Heep, August · Suchomilow, Gouverneur · Suchomilow, Wladimir Alexandrowitsch
Orte: Orenburg · Wiesbaden
Sachbegriffe: Rekruten · Gouverneure · Popen · Kriegsminister · Typhus · Fleischvergiftung · Ruhr (Krankheit) · Kinder · Diphterie
Empfohlene Zitierweise: „Erlebnisse des August Heep aus Biebrich in russischer Gefangenschaft, 1914-1918, Abschnitt 12: Eintreten für die Deutschen in Russland, Krankheiten“, in: Hessische Quellen zum Ersten Weltkrieg <https://www.lagis-hessen.de/de/purl/resolve/subject/qhg/id/122-6> (aufgerufen am 24.04.2024)